|
ie französische
Bewegung der Arbeitslosen ist ein einmaliges Ereignis. Mehr noch : Es ist ein
Präzedenzfall. Er verdankt sich einer neuen, kämpferischen Protestform, die mit allen
gewerkschaftlichen und parteipolitischen Traditionen bricht. Endlich sind jene, die
bislang von der Arbeitswelt wie auch vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen waren,
ins öffentliche Rampenlicht getreten.
Alle einschlägigen
wissenschaftlichen Forschungen, von den dreißiger Jahren bis heute, beweisen, daß die
Menschen an der Arbeitslosigkeit zerbrechen. Doch jetzt haben die Arbeitslosen mobil
gemacht. Sie haben sogar eine echte Bewegung auf die Beine gestellt. Sie haben das, was
von der Wirtschaft am heftigsten verdrängt wird, zurück ins Zentrum der politischen
Diskussion geholt. Sie erinnern daran, daß Massenarbeitslosigkeit eine untolerierbare
Erpressung darstellt - in der Arbeitswelt, im Erziehungswesen, in den Medien. Und nicht
nur dort. Massenarbeitslosigkeit unterdrückt. Sie unterdrückt durch eine Drohung, die
auf allen Menschen lastet, die noch Arbeit haben. Arbeitslosigkeit heißt dauerhafte
Erpressung. Besonders, wenn es sich um befristete oder unsichere Arbeitsverhältnisse
handelt.
Die Mobilisierung der
Arbeitslosen ist ein soziologisches Wunder. Das Wunder verstößt gegen alle Gesetze der
Wahrscheinlichkeit, und die großzügige phantasievolle Aktion läßt hoffen, daß sie zum
Exempel wird für eine große europäische Bewegung : Für die Auflehnung gegen einen wild
gewordenen Kapitalismus, der sich unter Hinweis auf die vermeintlich ehernen Gesetze der
neoliberalen Wirtschaft zu legitimieren sucht.
Ohne Zweifel befinden wir
uns in einer Epoche neokonservativer Restauration. Doch anders als in früheren Zeiten
verherrlicht sie nicht mehr Blut und Boden. Sie beruft sich nicht mehr auf agrarische und
archaischeThemen oder eine idealisierte Vergangenheit. Die konservative Revolution neuen
Typs suggeriert uns vielmehr, sie sei fortschrittlich, vernünftig, wissenschaftlich, in
diesem Fall wirtschaftswissenschaftlich. Sie tut dies, um fortschrittliches Denken und
Handeln als "archaisch" zu diskreditieren. Die neokonservative Restauration
erklärt die realen Gesetzmäßigkeiten einer Wirtschaftswelt, die bloß nach ihrer
eigenen Logik operiert, also nach dem sogenannten Gesetz des Marktes als dem Gesetz des
Stärkeren, zur idealen Regel. Sie bestätigt und glorifiziert damit die Herrschaft der
sogenannten Finanzmärkte, mithin jene Art Radikalkapitalismus, der als Gesetz nur den
maximalen Profit kennt. Ich meine damit auch jenen ungeschminkten und ungebremsten
Kapitalismus, der durch die Einführung moderner Herrschaftsformen wie Management und
Manipulationstechniken - zum Beispiel Markterhebungen, Marketing und kommerzielle Werbung
- rationalisiert und an die Grenzen seiner ökonomischen Effizienz getrieben wird.
Diese Revolution hat
scheinbar keine Ähnlichkeit mehr mit der alten Schwarzwälder Pastorale der konservativen
Revolutionäre aus den dreißiger Jahren. Vielmehr schmückt sie sich mit allen Insignien
der Modernität. Und stammt sie nicht aus Chicago? Galilei erklärte, die Welt der Natur
sei in der Sprache der Mathematik verfaßt ; heute will man uns glauben machen, die
wirtschaftliche und gesellschaftliche Welt erscheine in Gleichungen. Entsprechend wurde
der Neoliberalismus, mit Mathematik und Medienmacht gewappnet, zur höchsten Form einer
konservativen "Soziodizee", die sich schon seit dreißig Jahren ankündigt -
unter dem Titel "Ende der Ideologien" und "Ende der Geschichte".
Doch das angebliche Ende
der kritischen Utopien ist nichts anderes als wirtschaftswissenschaftlicher Fatalismus.
Auf ihn trifft zu, was Ernst Bloch am Ökonomismus und am Fatalismus von Karl Marx
kritisiert hat. "Derselbe Mann (Marx also), der allen Fetischcharakter aus dem
Produktionsprozeß austrieb, der alle Irrationalitäten als lediglich undurchschaute,
unbegriffene und daher schicksalhaft wirkende Dunkelheiten der Klassenlage, des
Produktionsprozesses zu analysieren, zu exorzisieren glaubte, der allen Traum, alle
wirkende Utopie, alles religiös umgehende Telos aus der Geschichte verbannte, treibt mit
den 'Produktivkräften', mit dem Kalkül des 'Produktionsprozesses' (...) denselben
Pantheismus, Mythizismus, vindiziert ihm dieselbe leitende Macht, die Hegel der 'Idee', ja
auch Schopenhauer seinem alogischen 'Willen' unterlegt hatte." (Ernst Bloch:
"Geist der Utopie", Zweite Fassung). Es ist genau dieser Fetischismus der
Produktivkräfte, der sich heute paradoxerweise bei den Propheten des Neoliberalismus und
bei den Hohepriestern von Geldstabilität und D-Mark wiederfindet.
Nun verkörpert der
Neoliberalismus eine mächtige Wirtschaftstheorie, die durch ihre symbolische Kraft die
Macht von wirtschaftlichen Realitäten steigert, deren Ausdruck sie eigentlich sein soll.
Mehr noch: Die Wirtschaftstheorie des Neoliberalismus bestätigt jene Philosophie
multinationaler Konzerne und ihrer Berater aus der Hochfinanz, die überall in der Welt
von Politikern, hohen Beamten und Journalisten nachgebetet wird. So wird die neue
Mathematik-Theologie gleichsam zu einem universellen Glauben, zu einem neuen ökumenischen
Evangelium. Doch dieses Evangelium besteht aus einem Ensemble schlecht definierter Wörter
- zum Beispiel Globalisierung, Flexibilität oder Deregulierung. Weil sie liberale, ja
libertäre Konnotationen haben, können sie dazu beitragen, daß uns die konservative
Ideologie vorkommt wie die Botschaft von Freiheit und Befreiung.
Tatsächlich kennt und
anerkennt diese Philosophie kein anderes Ziel als die Schaffung von immer mehr Reichtum,
der dann in den Händen einer kleinen Minderheit von Privilegierten konzentriert wird.
Folglich bekämpft die neoliberale Philosophie mit allen Mitteln die Hindernisse, die sich
ihr bei der Profitmaximierung in den Weg stellen. Zwar hüten sich die Anhänger des
Laisser-faire, Thatcher oder Reagan und ihre Nachfolger, alles zu erlauben; doch um der
Logik der Finanzmärkte dennoch freie Bahn zu verschaffen, führen sie Krieg gegen die
Gewerkschaften, gegen die sozialen Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte, kurz:
gegen die mit dem Sozialstaat verbundene Zivilisation.
Inzwischen läßt sich die
neoliberale Politik an ihren Resultaten messen trotz der Verfälschungen, die auf
statistischen Manipulationen und plumpen Fälschungen beruhen und vorspiegeln, die USA
oder Großbritannien hätten die Vollbeschäftigung erreicht. Im Gegenteilt : Es herrscht
Massenarbeitslosigkeit, es gibt ein Leben am Rande des Existenzminimums, ein Leben in
andauernder Unsicherheit, sogar in der Mittelschicht. Es herrscht tiefe Mutlosigkeit,
Grundsolidaritäten zerbrechen, besonders in der Familie mit allen Konsequenzen, die diese
Anomie mit sich bringt, zum Beispiel Jugendkriminalität, Verbrechen, Drogen, Alkoholismus
oder die Wiederkehr von Bewegungen mit faschistischem Habitus. Hinzu kommt, daß die
wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen für die einzigartigen kulturellen
Errungenschaften der Menschheit zerstört werden. Die autonome Welt der Kultur, die durch
Kämpfe und Opfer von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern geschaffen wurde
und seitdem stetig gewachsen ist, wird vom Markt bedroht. So durchdringt das Reich des
Handels und des Kommerziellen die Literatur, besonders durch eine Konzentration im
Verlagswesen, das dem Zwang zu unmittelbarem Profit immer direkter unterworfen wird. Beim
Film läßt sich fragen, was in zehn Jahren vom Experimentalfilm noch übrig sein wird,
wenn nichts geschieht, um Avantgardekünstlern Mittel zur Produktion und vor allem zur
Distribution zu verschaffen. Von den Sozialwissenschaften, die dazu verdammt sind, sich
den Aufträgen von Unternehmens- oder Staatsbürokratien zu unterwerfen oder an Geldmangel
einzugehen, ganz zu schweigen.
Nun wird man mich fragen,
was die Intellektuellen mit all dem zu tun haben. Gewiß werde ich nicht sämtliche Formen
ihres Rückzugs oder ihrer Kollaboration aufzählen - die Liste würde zu lang und zu
grausam. Erwähnen möchte ich nur die Diskussion um die sogenannten modernen oder
postmodernen Philosophen, die sich mit scholastischen Spielen die Zeit vertreiben oder
sich rhetorisch hinter "Vernunft" und "rationalem Dialog" verschanzen.
Gerade die sogenannten postmodernen Intellektuellen unterbreiten eine "radical
chic"-Variante vom Ende der Ideologien, verurteilen die großen Entwürfe oder
denunzieren die Wissenschaft.
Wie soll man angesichts
dieser Lage nicht in Depressionen verfallen? Wie läßt sich der "überlegte
Utopismus", den Ernst Bloch mit Blick auf Bacon formulierte, neu beleben und mit
gesellschaftlicher Durchsetzungskraft versehen? Und überhaupt, was ist darunter zu
verstehen? Nun, weil Ernst Bloch großen Wert auf die Unterscheidung legte, die Marx
zwischen "Soziologismus" als Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Gesetze -
und "Utopismus" machte, kann er das Bild des "überlegten Utopikers"
entwerfen. Der überlegte Utopiker ist ein Denker, der "auf Grund seiner (...)
Witterung für die objektive Tendenz" ein "Real-Mögliches psychisch
vorausnimmt". Sein rationaler Utopismus definiert sich gleichermaßen gegen
"pures wishful thinking" wie gegen die "Irrlehre eines objektivistischen
Automatismus, wonach die Widersprüche allein ausreichen, um die von ihnen durchsetzte
Welt zu revolutionieren".
Gegen den Fatalismus der
Bankiers, die uns einreden, die Welt könne nicht anders sein, als sie ist, müssen sich
die Intellektuellen und all jene, die sich ernsthaft um das Glück der Menschheit sorgen,
für ein wissenschaftlich untermauertes utopisches Denken stark machen. Es müßte in
seinen Zielen mit objektiven Tendenzen vereinbar sein. Gemeinsam müssen die
Intellektuellen an Analysen arbeiten, mit deren Hilfe realistische Projekte und Aktionen
in Angriff genommen werden können, abgestimmt auf die Prozesse einer Ordnung, die sie
verändern wollen.
Dieser theoretisch
begründete Utopismus fehlt Europa wahrscheinlich am meisten. Allerdings, einem Europa,
das uns das Bankiersdenken mit aller Kraft aufzwingen will, sollte nicht einfach eine
nationalistische Ablehnung Europas entgegengesetzt werden, sondern eine fortschrittliche.
Wer das Europa der Banken ablehnt, der lehnt ein Bankiersdenken ab, das unter dem
Deckmantel des Neoliberalismus das Geld zum Maß aller Dinge macht. Und wenn der Profit
zum einzigen Bewertungsprinzip, zum einzigen Maßstab in Erziehung und Kultur, Kunst oder
Literatur wird, dann sind wir zu spießbürgerlicher Seichtheit verdammt in einer
Zivilisation aus Einschaltquote, Bestseller oder Fernsehserie.
Der Widerstand gegen das
Europa der Bankiers, überhaupt der Widerstand gegen ihre konservative Restauration kann
nur auf europäischer Ebene organisiert werden. Er kann nur dann wahrhaft europäisch,
also frei von nationalen und immer noch nationalistisch beeinflußten Interessen,
Vorurteilen und Denkgewohnheiten sein, wenn er sich auf eine konzertierte Aktion von
Intellektuellen in allen Ländern Europas stützt - und auch auf Gewerkschaften und
Verbände aus allen Ländern Europas. Deshalb ist heute nicht die Erarbeitung gemeinsamer
europäischer Programme am dringlichsten, sondern die Schaffung von Institutionen, in
denen europäische Programme diskutiert und erarbeitet werden. Ich meine Parlamente,
internationale Verbände, europäische Vereinigungen für Lastwagenfahrer, Verleger,
Lehrer, aber auch Vereinigungen zum Schutz von Bäumen, Fischen, Pilzen, der Luft, der
Kinder und so weiter und so fort.
Nun wird man mir
entgegenhalten, all dies existiere bereits. Doch das glaube ich nicht, ganz im Gegenteil,
man denke nur an den europäischen Gewerkschaftsbund. Was sich formiert, das ist eine
europäische Internationale der Technokraten, und sie arbeitet mit einer gewissen
Effizienz, gegen die ich im übrigen nichts einzuwenden habe.
Keinesfalls darf die Frage
nach einer möglichen Rolle der Intellektuellen beim Aufbau einer europäischen Utopie nur
abstrakt beantwortet werden. Die himmelschreienden Lücken beim Aufbau Europas betreffen
vor allem vier Bereiche: den Sozialstaat und seine Aufgaben; die Vereinigung der
Gewerkschaften; eine Angleichung und Modernisierung der Erziehungssysteme sowie die
Verknüpfung von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Deshalb erarbeite ich derzeit - zusammen
mit anderen Forschern aus verschiedenen europäischen Ländern - Organisationsstrukturen
für vergleichende und ergänzende Forschungen. Nur so läßt sich ein
"Utopismus" wissenschaftlich begründen; nur so können gesellschaftliche
Hindernisse bei einer echten Europäisierung von Institutionen wie dem Staat, dem
Erziehungssystem und den Gewerkschaften offen gelegt werden.
Vor allem liegt mir das
vierte Projekt am Herzen, die Verknüpfung zwischen der Wirtschafts- und der sogenannten
Sozialpolitik. Ich möchte erforschen, welche Auswirkungen und welche sozialen Folgekosten
die Wirtschaftspolitik nach sich zieht. Deshalb müssen wir zu den Ursprüngen des
"sozialen Elends" zurückgehen. Der Sozialwissenschaftler, der gewöhnlich nur
gerufen wird, um das von Wirtschaftlern zerschlagene Geschirr zu kitten, könnte bei
dieser Gelegenheit daran erinnern, daß die Soziologie auf jener politischen
Entscheidungsebene eingreifen müßte, die immer häufiger Ökonomen überlassen wird. Die
menschlichen Leiden, die durch neoliberale Politik verursacht werden (wie wir es in der
Studie "Das Elend der Welt" beschrieben haben), müssen dargestellt und mit der
Sozialpolitik der Unternehmen (Entlassungen, Art der Anstellungsverträge, Gehälter),
ihren wirtschaftlichen Ergebnissen (Profite, Produktivität) und den typischen sozialen
Indizien wie Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten, Alkoholismus, Drogenkonsum, Selbstmord,
Vergehen und Verbrechen, Vergewaltigungen und ähnlichem in Beziehung gesetzt werden. Erst
auf dieser Grundlage kann man die Frage nach den gesellschaftlichen Kosten
wirtschaftlicher Gewalt stellen, und erst dann kann man das Fundament zu einer Ökonomie
des Glücks legen. Es wäre eine Ökonomie, die endlich berücksichtigen würde, was
Wirtschaftsführer und -wissenschaftler bei ihren phantastischen Berechnungen alles außer
acht lassen - Berechnungen, auf deren Basis uns die Politiker regieren wollen. |
|