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  Pierre Bourdieu

 
   

sociologue énervant

 
   

Des textes de l'impétrant

 
 

 

  Pierre Bourdieu  Kapitalismus als
 konservative Restauration.
 
  pierre bourdieu

Die Zeit, 22 janvier 1998.
Diesem von Verena Vannahme übersetzten Essay liegt eine Rede zugrunde, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu anläßlich der Verleihung des Ernst-Bloch-Preises der Stadt Ludwigshafen gehalten hat. Angesichts der Demonstrationen in Paris hat Bourdieu seine Rede für die Druckfassung aktualisiert.

 
   

Die französische Bewegung der Arbeitslosen ist ein einmaliges Ereignis. Mehr noch : Es ist ein Präzedenzfall. Er verdankt sich einer neuen, kämpferischen Protestform, die mit allen gewerkschaftlichen und parteipolitischen Traditionen bricht. Endlich sind jene, die bislang von der Arbeitswelt wie auch vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen waren, ins öffentliche Rampenlicht getreten.

pointg.gif (57 octets) Alle einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen, von den dreißiger Jahren bis heute, beweisen, daß die Menschen an der Arbeitslosigkeit zerbrechen. Doch jetzt haben die Arbeitslosen mobil gemacht. Sie haben sogar eine echte Bewegung auf die Beine gestellt. Sie haben das, was von der Wirtschaft am heftigsten verdrängt wird, zurück ins Zentrum der politischen Diskussion geholt. Sie erinnern daran, daß Massenarbeitslosigkeit eine untolerierbare Erpressung darstellt - in der Arbeitswelt, im Erziehungswesen, in den Medien. Und nicht nur dort. Massenarbeitslosigkeit unterdrückt. Sie unterdrückt durch eine Drohung, die auf allen Menschen lastet, die noch Arbeit haben. Arbeitslosigkeit heißt dauerhafte Erpressung. Besonders, wenn es sich um befristete oder unsichere Arbeitsverhältnisse handelt.

pointg.gif (57 octets) Die Mobilisierung der Arbeitslosen ist ein soziologisches Wunder. Das Wunder verstößt gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit, und die großzügige phantasievolle Aktion läßt hoffen, daß sie zum Exempel wird für eine große europäische Bewegung : Für die Auflehnung gegen einen wild gewordenen Kapitalismus, der sich unter Hinweis auf die vermeintlich ehernen Gesetze der neoliberalen Wirtschaft zu legitimieren sucht.

pointg.gif (57 octets) Ohne Zweifel befinden wir uns in einer Epoche neokonservativer Restauration. Doch anders als in früheren Zeiten verherrlicht sie nicht mehr Blut und Boden. Sie beruft sich nicht mehr auf agrarische und archaischeThemen oder eine idealisierte Vergangenheit. Die konservative Revolution neuen Typs suggeriert uns vielmehr, sie sei fortschrittlich, vernünftig, wissenschaftlich, in diesem Fall wirtschaftswissenschaftlich. Sie tut dies, um fortschrittliches Denken und Handeln als "archaisch" zu diskreditieren. Die neokonservative Restauration erklärt die realen Gesetzmäßigkeiten einer Wirtschaftswelt, die bloß nach ihrer eigenen Logik operiert, also nach dem sogenannten Gesetz des Marktes als dem Gesetz des Stärkeren, zur idealen Regel. Sie bestätigt und glorifiziert damit die Herrschaft der sogenannten Finanzmärkte, mithin jene Art Radikalkapitalismus, der als Gesetz nur den maximalen Profit kennt. Ich meine damit auch jenen ungeschminkten und ungebremsten Kapitalismus, der durch die Einführung moderner Herrschaftsformen wie Management und Manipulationstechniken - zum Beispiel Markterhebungen, Marketing und kommerzielle Werbung - rationalisiert und an die Grenzen seiner ökonomischen Effizienz getrieben wird.

pointg.gif (57 octets) Diese Revolution hat scheinbar keine Ähnlichkeit mehr mit der alten Schwarzwälder Pastorale der konservativen Revolutionäre aus den dreißiger Jahren. Vielmehr schmückt sie sich mit allen Insignien der Modernität. Und stammt sie nicht aus Chicago? Galilei erklärte, die Welt der Natur sei in der Sprache der Mathematik verfaßt ; heute will man uns glauben machen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Welt erscheine in Gleichungen. Entsprechend wurde der Neoliberalismus, mit Mathematik und Medienmacht gewappnet, zur höchsten Form einer konservativen "Soziodizee", die sich schon seit dreißig Jahren ankündigt - unter dem Titel "Ende der Ideologien" und "Ende der Geschichte".

pointg.gif (57 octets) Doch das angebliche Ende der kritischen Utopien ist nichts anderes als wirtschaftswissenschaftlicher Fatalismus. Auf ihn trifft zu, was Ernst Bloch am Ökonomismus und am Fatalismus von Karl Marx kritisiert hat. "Derselbe Mann (Marx also), der allen Fetischcharakter aus dem Produktionsprozeß austrieb, der alle Irrationalitäten als lediglich undurchschaute, unbegriffene und daher schicksalhaft wirkende Dunkelheiten der Klassenlage, des Produktionsprozesses zu analysieren, zu exorzisieren glaubte, der allen Traum, alle wirkende Utopie, alles religiös umgehende Telos aus der Geschichte verbannte, treibt mit den 'Produktivkräften', mit dem Kalkül des 'Produktionsprozesses' (...) denselben Pantheismus, Mythizismus, vindiziert ihm dieselbe leitende Macht, die Hegel der 'Idee', ja auch Schopenhauer seinem alogischen 'Willen' unterlegt hatte." (Ernst Bloch: "Geist der Utopie", Zweite Fassung). Es ist genau dieser Fetischismus der Produktivkräfte, der sich heute paradoxerweise bei den Propheten des Neoliberalismus und bei den Hohepriestern von Geldstabilität und D-Mark wiederfindet.

pointg.gif (57 octets) Nun verkörpert der Neoliberalismus eine mächtige Wirtschaftstheorie, die durch ihre symbolische Kraft die Macht von wirtschaftlichen Realitäten steigert, deren Ausdruck sie eigentlich sein soll. Mehr noch: Die Wirtschaftstheorie des Neoliberalismus bestätigt jene Philosophie multinationaler Konzerne und ihrer Berater aus der Hochfinanz, die überall in der Welt von Politikern, hohen Beamten und Journalisten nachgebetet wird. So wird die neue Mathematik-Theologie gleichsam zu einem universellen Glauben, zu einem neuen ökumenischen Evangelium. Doch dieses Evangelium besteht aus einem Ensemble schlecht definierter Wörter - zum Beispiel Globalisierung, Flexibilität oder Deregulierung. Weil sie liberale, ja libertäre Konnotationen haben, können sie dazu beitragen, daß uns die konservative Ideologie vorkommt wie die Botschaft von Freiheit und Befreiung.

pointg.gif (57 octets) Tatsächlich kennt und anerkennt diese Philosophie kein anderes Ziel als die Schaffung von immer mehr Reichtum, der dann in den Händen einer kleinen Minderheit von Privilegierten konzentriert wird. Folglich bekämpft die neoliberale Philosophie mit allen Mitteln die Hindernisse, die sich ihr bei der Profitmaximierung in den Weg stellen. Zwar hüten sich die Anhänger des Laisser-faire, Thatcher oder Reagan und ihre Nachfolger, alles zu erlauben; doch um der Logik der Finanzmärkte dennoch freie Bahn zu verschaffen, führen sie Krieg gegen die Gewerkschaften, gegen die sozialen Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte, kurz: gegen die mit dem Sozialstaat verbundene Zivilisation.

pointg.gif (57 octets) Inzwischen läßt sich die neoliberale Politik an ihren Resultaten messen trotz der Verfälschungen, die auf statistischen Manipulationen und plumpen Fälschungen beruhen und vorspiegeln, die USA oder Großbritannien hätten die Vollbeschäftigung erreicht. Im Gegenteilt : Es herrscht Massenarbeitslosigkeit, es gibt ein Leben am Rande des Existenzminimums, ein Leben in andauernder Unsicherheit, sogar in der Mittelschicht. Es herrscht tiefe Mutlosigkeit, Grundsolidaritäten zerbrechen, besonders in der Familie mit allen Konsequenzen, die diese Anomie mit sich bringt, zum Beispiel Jugendkriminalität, Verbrechen, Drogen, Alkoholismus oder die Wiederkehr von Bewegungen mit faschistischem Habitus. Hinzu kommt, daß die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen für die einzigartigen kulturellen Errungenschaften der Menschheit zerstört werden. Die autonome Welt der Kultur, die durch Kämpfe und Opfer von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern geschaffen wurde und seitdem stetig gewachsen ist, wird vom Markt bedroht. So durchdringt das Reich des Handels und des Kommerziellen die Literatur, besonders durch eine Konzentration im Verlagswesen, das dem Zwang zu unmittelbarem Profit immer direkter unterworfen wird. Beim Film läßt sich fragen, was in zehn Jahren vom Experimentalfilm noch übrig sein wird, wenn nichts geschieht, um Avantgardekünstlern Mittel zur Produktion und vor allem zur Distribution zu verschaffen. Von den Sozialwissenschaften, die dazu verdammt sind, sich den Aufträgen von Unternehmens- oder Staatsbürokratien zu unterwerfen oder an Geldmangel einzugehen, ganz zu schweigen.

pointg.gif (57 octets) Nun wird man mich fragen, was die Intellektuellen mit all dem zu tun haben. Gewiß werde ich nicht sämtliche Formen ihres Rückzugs oder ihrer Kollaboration aufzählen - die Liste würde zu lang und zu grausam. Erwähnen möchte ich nur die Diskussion um die sogenannten modernen oder postmodernen Philosophen, die sich mit scholastischen Spielen die Zeit vertreiben oder sich rhetorisch hinter "Vernunft" und "rationalem Dialog" verschanzen. Gerade die sogenannten postmodernen Intellektuellen unterbreiten eine "radical chic"-Variante vom Ende der Ideologien, verurteilen die großen Entwürfe oder denunzieren die Wissenschaft.

pointg.gif (57 octets) Wie soll man angesichts dieser Lage nicht in Depressionen verfallen? Wie läßt sich der "überlegte Utopismus", den Ernst Bloch mit Blick auf Bacon formulierte, neu beleben und mit gesellschaftlicher Durchsetzungskraft versehen? Und überhaupt, was ist darunter zu verstehen? Nun, weil Ernst Bloch großen Wert auf die Unterscheidung legte, die Marx zwischen "Soziologismus" als Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Gesetze - und "Utopismus" machte, kann er das Bild des "überlegten Utopikers" entwerfen. Der überlegte Utopiker ist ein Denker, der "auf Grund seiner (...) Witterung für die objektive Tendenz" ein "Real-Mögliches psychisch vorausnimmt". Sein rationaler Utopismus definiert sich gleichermaßen gegen "pures wishful thinking" wie gegen die "Irrlehre eines objektivistischen Automatismus, wonach die Widersprüche allein ausreichen, um die von ihnen durchsetzte Welt zu revolutionieren".

pointg.gif (57 octets) Gegen den Fatalismus der Bankiers, die uns einreden, die Welt könne nicht anders sein, als sie ist, müssen sich die Intellektuellen und all jene, die sich ernsthaft um das Glück der Menschheit sorgen, für ein wissenschaftlich untermauertes utopisches Denken stark machen. Es müßte in seinen Zielen mit objektiven Tendenzen vereinbar sein. Gemeinsam müssen die Intellektuellen an Analysen arbeiten, mit deren Hilfe realistische Projekte und Aktionen in Angriff genommen werden können, abgestimmt auf die Prozesse einer Ordnung, die sie verändern wollen.

pointg.gif (57 octets) Dieser theoretisch begründete Utopismus fehlt Europa wahrscheinlich am meisten. Allerdings, einem Europa, das uns das Bankiersdenken mit aller Kraft aufzwingen will, sollte nicht einfach eine nationalistische Ablehnung Europas entgegengesetzt werden, sondern eine fortschrittliche. Wer das Europa der Banken ablehnt, der lehnt ein Bankiersdenken ab, das unter dem Deckmantel des Neoliberalismus das Geld zum Maß aller Dinge macht. Und wenn der Profit zum einzigen Bewertungsprinzip, zum einzigen Maßstab in Erziehung und Kultur, Kunst oder Literatur wird, dann sind wir zu spießbürgerlicher Seichtheit verdammt in einer Zivilisation aus Einschaltquote, Bestseller oder Fernsehserie.

pointg.gif (57 octets) Der Widerstand gegen das Europa der Bankiers, überhaupt der Widerstand gegen ihre konservative Restauration kann nur auf europäischer Ebene organisiert werden. Er kann nur dann wahrhaft europäisch, also frei von nationalen und immer noch nationalistisch beeinflußten Interessen, Vorurteilen und Denkgewohnheiten sein, wenn er sich auf eine konzertierte Aktion von Intellektuellen in allen Ländern Europas stützt - und auch auf Gewerkschaften und Verbände aus allen Ländern Europas. Deshalb ist heute nicht die Erarbeitung gemeinsamer europäischer Programme am dringlichsten, sondern die Schaffung von Institutionen, in denen europäische Programme diskutiert und erarbeitet werden. Ich meine Parlamente, internationale Verbände, europäische Vereinigungen für Lastwagenfahrer, Verleger, Lehrer, aber auch Vereinigungen zum Schutz von Bäumen, Fischen, Pilzen, der Luft, der Kinder und so weiter und so fort.

pointg.gif (57 octets) Nun wird man mir entgegenhalten, all dies existiere bereits. Doch das glaube ich nicht, ganz im Gegenteil, man denke nur an den europäischen Gewerkschaftsbund. Was sich formiert, das ist eine europäische Internationale der Technokraten, und sie arbeitet mit einer gewissen Effizienz, gegen die ich im übrigen nichts einzuwenden habe.

pointg.gif (57 octets) Keinesfalls darf die Frage nach einer möglichen Rolle der Intellektuellen beim Aufbau einer europäischen Utopie nur abstrakt beantwortet werden. Die himmelschreienden Lücken beim Aufbau Europas betreffen vor allem vier Bereiche: den Sozialstaat und seine Aufgaben; die Vereinigung der Gewerkschaften; eine Angleichung und Modernisierung der Erziehungssysteme sowie die Verknüpfung von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Deshalb erarbeite ich derzeit - zusammen mit anderen Forschern aus verschiedenen europäischen Ländern - Organisationsstrukturen für vergleichende und ergänzende Forschungen. Nur so läßt sich ein "Utopismus" wissenschaftlich begründen; nur so können gesellschaftliche Hindernisse bei einer echten Europäisierung von Institutionen wie dem Staat, dem Erziehungssystem und den Gewerkschaften offen gelegt werden.

pointg.gif (57 octets) Vor allem liegt mir das vierte Projekt am Herzen, die Verknüpfung zwischen der Wirtschafts- und der sogenannten Sozialpolitik. Ich möchte erforschen, welche Auswirkungen und welche sozialen Folgekosten die Wirtschaftspolitik nach sich zieht. Deshalb müssen wir zu den Ursprüngen des "sozialen Elends" zurückgehen. Der Sozialwissenschaftler, der gewöhnlich nur gerufen wird, um das von Wirtschaftlern zerschlagene Geschirr zu kitten, könnte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, daß die Soziologie auf jener politischen Entscheidungsebene eingreifen müßte, die immer häufiger Ökonomen überlassen wird. Die menschlichen Leiden, die durch neoliberale Politik verursacht werden (wie wir es in der Studie "Das Elend der Welt" beschrieben haben), müssen dargestellt und mit der Sozialpolitik der Unternehmen (Entlassungen, Art der Anstellungsverträge, Gehälter), ihren wirtschaftlichen Ergebnissen (Profite, Produktivität) und den typischen sozialen Indizien wie Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten, Alkoholismus, Drogenkonsum, Selbstmord, Vergehen und Verbrechen, Vergewaltigungen und ähnlichem in Beziehung gesetzt werden. Erst auf dieser Grundlage kann man die Frage nach den gesellschaftlichen Kosten wirtschaftlicher Gewalt stellen, und erst dann kann man das Fundament zu einer Ökonomie des Glücks legen. Es wäre eine Ökonomie, die endlich berücksichtigen würde, was Wirtschaftsführer und -wissenschaftler bei ihren phantastischen Berechnungen alles außer acht lassen - Berechnungen, auf deren Basis uns die Politiker regieren wollen.

 

Pierre Bourdieu

     
    

   
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