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PIERRE
BOURDIEU: Herr Grass, Sie haben irgendwo gesagt, es gebe eine
europäische oder deutsche Tradition, die auch gute französische
Tradition sei: den Mund aufzumachen. Ich möchte das hier mit
Ihnen gemeinsam tun.
GÜNTER
GRASS: Für deutsche Erfahrungen ist es ungewöhnlich,
dass ein Soziologe und ein Schriftsteller sich zusammensetzen. Hier
sitzen die Philosophen meist in einer Ecke, die Soziologen in der
anderen, und im Hinterzimmer zerstritten die Schriftsteller. Unsere
Art von Kommunikation findet zu selten statt. Denn wenn ich an Ihr
Buch Das Elend der Welt denke oder an mein letztes Buch Mein
Jahrhundert, haben wir in unserer Arbeit eines gemeinsam: Wir
erzählen Geschichte von unten. Wir sprechen nicht über die
Gesellschaft hinweg, nicht aus der Position der Sieger, sondern sind
berufsnotorisch aufseiten der Verlierer.
In
Das Elend der Welt ist es Ihnen und Ihren Mitarbeitern gelungen,
ganz auf das Konzept des Verstehens, nicht des Besserwissens zu setzen:
eine Sicht der gesellschaftlichen Zustände in Frankreich, die
sich durchaus übertragen lässt auf andere Länder. Ihre
Geschichten verlocken mich als Schriftsteller, sie als Rohmaterial
zu benutzen. Zum Beispiel die Schilderung des Narzissenwegs, wo Metallarbeiter,
die oft in der dritten Generation in die Fabriken gegangen sind, nun
arbeitslos sind und aus der Gesellschaft wie ausgeschlossen. Oder
die Studie einer jungen Frau, die vom Land nach Paris kommt und in
Nachtarbeit Briefe sortiert. In der Schilderung des Arbeitsplatzes
werden soziale Probleme deutlich, ohne dass man sie plakativ in den
Vordergrund stellt. Das hat mir sehr gefallen.
Ich
wünschte, wir hätten in jedem Land ein derartiges Buch über
die gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Einzige, was mir als
Frage aufgefallen ist, gehört vielleicht zur Disziplin der Soziologie:
Humor kommt in solchen Büchern nicht vor. Es fehlt die Komik
des Scheiterns, die in meinen Geschichten eine große Rolle spielt,
die Absurditäten, die sich aus bestimmten Konfrontationen ergeben.
Woran liegt das?
BOURDIEU:
Wenn man solche Erfahrungen unmittelbar von den betroffenen Menschen
zu hören bekommt, wirkt das ziemlich niederschmetternd, und es
ist fast undenkbar, dabei den nötigen Abstand zu wahren. Wir
haben zuletzt aus dem Buch mehrere Erzählungen herausgenommen,
weil sie zu ergreifend waren.
GRASS:
Darf ich unterbrechen? Mit komisch meine ich, dass Tragödie und
Komödie einander nicht ausschließen, dass die Grenzen zwischen
diesen beiden Bereichen fließend sind.
BOURDIEU:
Letztlich wollten wir die brutale Absurdität den Lesern ohne
jede Effekthascherei vor Augen führen. Angesichts menschlicher
Dramen kommt man oft in Versuchung, "schön" zu schreiben. Wir
haben stattdessen versucht, so schonungslos wie möglich zu sein,
um der Wirklichkeit ihre gewalttätige Seite wiederzugeben. Dafür
sprachen wissenschaftliche, aber auch literarische Überlegungen.
Wir wollten nicht "literarisch" werden, um auf andere Weise literarisch
sein zu können. Natürlich gab es auch politische Gründe.
Wir empfanden die Gewalt des Handelns, die gegenwärtig die neoliberale
Politik ausübt, als so groß, dass man ihr nicht allein
durch theoretische Analysen gerecht wird. Das kritische Denken ist
nicht auf der Höhe der Effekte, die diese Politik produziert.
GRASS:
Für meine Frage sollte ich ein bisschen weiter ausholen. Wir
sind beide, Sie als Soziologe und ich als Schriftsteller, Kinder der
Aufklärung, einer Tradition, die heute überall - jedenfalls
in Deutschland und Frankreich - infrage gestellt wird, als sei der
Prozess der europäischen Aufklärung gescheitert. Ich bin
anderer Meinung. Ich sehe die Fehlentwicklungen im Prozess der Aufklärung,
zum Beispiel die Reduzierung der Vernunft auf das rein technisch Machbare.
Viele Aspekte, die es am Anfang gab, wenn ich nur an Montaigne denke,
sind im Verlauf der Jahrhunderte verloren gegangen. Unter anderem
auch der Humor. Voltaires Candide oder Diderots Jacques
le Fataliste zum Beispiel sind Bücher, in denen die Zustände
der Zeit auch schrecklich sind, und dennoch bricht die menschliche
Fähigkeit durch, unter Schmerz und im Scheitern noch eine komische
und in dem Sinne siegreiche Figur abzugeben.
BOURDIEU:
Aber dieses Gefühl, dass uns die Tradition der Aufklärung
abhanden kommt, hängt mit einer Umkehrung der gesamten Weltsicht
zusammen, die durch die heute vorherrschende neoliberale Sicht der
Dinge durchgesetzt wurde. Bei der neoliberalen Revolution, hier in
Deutschland kann ich diesen Vergleich bemühen, handelt es sich
doch um eine zutiefst konservative Revolution - in dem Sinne, wie
man im Deutschland der dreißiger Jahre von einer konservativen
Revolution sprach. Eine solche Revolution ist eine höchst seltsame
Angelegenheit: Sie setzt die Vergangenheit wieder in ihre Rechte und
gibt sich dabei als fortschrittlich aus, sodass diejenigen, die die
Rückkehr zu den alten Zuständen bekämpfen, selbst in
den Ruch kommen, von gestern zu sein. Das begegnet uns beiden häufig,
wir werden ein ums andere Mal als ewig Gestrige behandelt: In Frankreich
gehört man zum "alten Eisen".
GRASS:
Dinosaurier ...
BOURDIEU:
Ganz genau. Da ist sie, die große Macht konservativer Revolutionen,
"fortschrittlicher" Restaurationen. Selbst Ihr Argument kann so ausgelegt
werden. Man sagt uns, wir hätten keinen Witz. Aber die Zeiten
sind nicht witzig! Es gibt nichts, über das man lachen könnte.
GRASS:
Ich habe nicht behauptet, dass wir in lustigen Zeiten leben. Das Höllengelächter,
das man mit literarischen Mitteln entfesselt, ist auch ein Protest
gegen die Zustände. Was sich heute als Neoliberalismus verkauft,
ist ein Rückgriff auf Methoden des Manchester-Liberalismus im
19. Jahrhundert. Noch in den siebziger Jahren gab es in ganz Europa
einen relativ erfolgreichen Versuch, den Kapitalismus zu zivilisieren.
Wenn ich davon ausgehe, dass Sozialismus und Kapitalismus beide genial
missratene Kinder der Aufklärung sind, so hatten sie eine gewisse
Kontrollfunktion im Verhältnis zueinander. Selbst der Kapitalismus
war Verantwortungen unterworfen. Wir nannten das in Deutschland soziale
Marktwirtschaft, und bis in die konservative Partei hinein gab es
das Einverständnis, dass Zustände wie in der Weimarer Republik
nie wieder entstehen dürfen. Dieser Konsens wurde in den achtziger
Jahre gebrochen. Seitdem die kommunistischen Hierarchien zusammenbrachen,
meint der Kapitalismus verrückt spielen zu können, wie außer
Kontrolle geraten. Es ist kein Gegenüber mehr da. Heute heben
selbst die wenigen verantwortlichen Kapitalisten warnend den Finger,
weil sie merken, dass ihre Instrumente aus dem Ruder laufen, dass
der Neoliberalismus die Fehler des Kommunismus wiederholt, indem er
Glaubensartikel in die Welt setzt, Unfehlbarkeit beansprucht.
BOURDIEU:
Aber die Macht des Neoliberalismus ist so überwältigend,
dass er von Leuten ins Werk gesetzt wird, die sich als Sozialisten
bezeichnen. Ob Schröder, Blair oder Jospin, es sind Leute, die
sich auf den Sozialismus berufen, um neoliberale Politik zu machen.
Dadurch werden Analyse und Kritik außerordentlich schwierig,
weil alles seitenverkehrt ist.
GRASS:
Eine Kapitulation vor der Ökonomie.
BOURDIEU:
Gleichzeitig fällt es ungeheuer schwer, eine kritische Position
links dieser sozialdemokratischen Regierungen zu entwickeln. In Frankreich
gab es die großen Streiks von 1995, die weite Teile der Arbeiterschaft,
Angestellte und auch Intellektuelle mobilisiert haben. Dann folgten
die Arbeitslosenbewegung, der europäische Marsch der Arbeitslosen,
die Bewegung der Einwanderer ohne Bleiberecht - eine Art permanenter
Agitation, die die Sozialdemokraten an der Macht zwang, zumindest
so zu tun, als führten sie einen sozialistischen Diskurs. Aber
in der Praxis ist diese kritische Bewegung sehr schwach, zum großen
Teil weil sie in nationalen Grenzen gefangen bleibt. Man muss auf
internationaler Ebene eine wirksame Position links von den sozialdemokratischen
Regierungen lebensfähig machen. Ich frage mich deshalb: Was können
wir, die Intellektuellen, zu einer solchen Bewegung für ein "soziales
Europa" beitragen? Die Macht der Herrschenden ist nicht allein eine
ökonomische, sondern eine intellektuelle, geistige. Gerade deshalb
gilt es, "seinen Mund aufzumachen", eine gemeinsame Utopie wiederherzustellen;
denn zu den Fähigkeiten der neoliberalen Regierungen gehört
es, Utopien zu töten, Utopien als überholt erscheinen zu
lassen.
GRASS:
Die sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien haben teilweise
selbst an die These geglaubt, dass mit dem Niedergang des Kommunismus
auch der Sozialismus aus der Welt ist, und haben das Vertrauen in
die ja weit länger als der Kommunismus bestehende Arbeiterbewegung
verloren. Wenn man sich von der eigenen Tradition verabschiedet, dann
gibt man sich auf. In Deutschland kam es allenfalls zu kleinen Ansätzen,
die Arbeitslosen zu organisieren. Seit Jahren versuche ich den Gewerkschaften
zu sagen: Ihr könnt doch die Arbeiter nicht nur betreuen, solange
sie noch in Arbeit sind, und sobald sie ausgeschlossen sind, fallen
sie ins Bodenlose. Ihr müsst europaweit eine Gewerkschaft der
Arbeitslosen gründen. Wir jammern darüber, dass die Einigung
Europas nur im ökonomischen Bereich stattfindet, aber es fehlt
die Anstrengung der Gewerkschaften, aus dem nationalen Rahmen zu einer
Organisations- und Aktionsform zu kommen, die über die Grenzen
hinweg trägt. Dem globalen Neoliberalismus müssen wir Paroli
bieten. Mittlerweile aber schlucken viele Intellektuelle alles herunter.
Und vom Herunterschlucken kriegt man Magengeschwüre, mehr nicht.
Man muss die Dinge aussprechen. Ich bezweifle deshalb, ob man sich
allein auf die Intellektuellen verlassen kann. Während in Frankreich
immer noch, so scheint es mir jedenfalls, ungebrochen von "den Intellektuellen"
gesprochen wird, zeigen mir meine deutschen Erfahrungen, dass es ein
Missverständnis ist, zu glauben, dass intellektuell sein gleich
links sein bedeutet. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts beweist bis
in den Nationalsozialismus hinein das Gegenteil: Ein Mann wie Goebbels
war ein Intellektueller. Intellektuell sein ist für mich noch
kein Qualitätsnachweis. Gerade Ihr Buch Das Elend der Welt
zeigt doch, dass Leute, die aus der Arbeitswelt kommen, die sich gewerkschaftlich
organisiert haben, weit größere Erfahrungen aus dem sozialen
Bereich mitbringen als Intellektuelle. Heute sind sie entweder arbeitslos
oder pensioniert, und niemand scheint sie mehr zu brauchen. Ihre Kraft
bleibt völlig ungenutzt.
BOURDIEU:
Das Elend der Welt ist ein Versuch, den Intellektuellen ein
sehr bescheidenes, aber gleichzeitig nützliches Amt zu übertragen:
Der öffentliche Schreiber, wie ich ihn aus den Ländern Nordafrikas
kenne, ist ein Schriftkundiger, der seine Fähigkeit in den Dienst
der anderen stellt, damit sie die Dinge festhalten lassen, von denen
sie Kenntnis haben. Die Soziologen befinden sich hier in einer ganz
besonderen Lage; es sind Leute, die meist - nicht immer - zuhören
können, die entziffern, was man ihnen sagt, es übersetzen
und überliefern. Vielleicht ist das ein wenig zünftlerisch,
aber ich halte es für wichtig, dass die Intellektuellen an dieser
Arbeit teilnehmen.
GRASS:
Das hieße aber auch gleichzeitig, an die Intellektuellen zu
appellieren, die dem Neoliberalismus nahe stehen. Darunter gibt es
Leute, die zu zweifeln beginnen, ob dem völlig unkontrollierten
Kreislauf des Geldes um den Globus, ob dem ausgebrochenen Wahnsinn
innerhalb des Kapitalismus nicht widersprochen werden muss: zum Beispiel
Fusionen ohne Sinn und Zweck, mit dem Ergebnis, dass 5000, 10 000
Leute arbeitslos werden. Allein die Profitmaximierung schlägt
sich an der Börse nieder.
BOURDIEU:
Leider geht es nicht einfach darum, der herrschenden Meinung zu
widersprechen. Um dabei Erfolg zu haben, muss man einen kritischen
Diskurs verbreiten, ihn öffentlich machen können. In diesem
Augenblick reden wir miteinander in der Absicht, über den engen
Kreis der Intellektuellen hinauszureichen. Ich würde gerne ein
wenig die Mauer des Schweigens aufbrechen - eben weil sie nicht einfach
eine Mauer des Geldes ist. Das Fernsehen ist sehr zwiespältig:
Es ist ein Instrument, das uns hier zu sprechen erlaubt und gleichzeitig
unsereins zum Schweigen bringt. Wir werden ohne Unterlass von der
alles beherrschenden Meinung bestürmt und überwältigt.
Die Journalisten sind in ihrer großen Mehrheit oft unbewusste
Komplizen des herrschenden Diskurses, dessen Einhelligkeit kaum zu
brechen ist. In Frankreich ist es sehr schwierig - außer für
einige hoch angesehene Persönlichkeiten -, an die Öffentlichkeit
zu treten. Aber bedauerlicherweise werden viele Leute mit höheren
Weihen stumm, und es gibt nur wenige, die das symbolische Kapital
nutzen, um zu sprechen - auch um diejenigen zu Gehör zu bringen,
denen die Worte fehlen.
GRASS:
Das Fernsehen hat natürlich, wie alle großen Institutionen,
seinen eigenen Aberglauben geprägt: die Einschaltquote, deren
Diktat man sich beugt. Deshalb kommen Gespräche wie das, das
wir hier führen, in den großen Programmen kaum einmal vor,
sondern eher auf Arte. Ich nehme nie an einer Talkshow teil. Ich halte
deren Form für unmöglich, weil sie nichts transportiert.
In diesem Gequatsche setzt sich der durch, der am längsten redet
oder den anderen am rigorosesten ignoriert. Es kommt auch deshalb
in der Regel nichts dabei heraus, weil der Moderator immer dann abbricht,
wenn es interessant werden könnte, wenn es sich zuspitzt. Wir
beide greifen auf eine Tradition zurück, die aus dem Mittelalter
herrührt, auf den Disput. Zwei Personen, zwei verschiedene Meinungen,
zwei Erfahrungen, die sich ergänzen: Da kann, wenn wir uns Mühe
geben, einiges herauskommen. Vielleicht wäre das an diesen Moloch
Fernsehen eine Empfehlung, mal auf bewährte, ein Thema zuspitzende
Dialogformen zurückzugreifen wie auf den Disput.
BOURDIEU:
Leider müssen besondere Umstände zusammenkommen, damit sich
die Produzenten des Diskurses, Schriftsteller, Künstler, Forscher,
ihre Produktionsmittel wieder aneignen können. Ich drücke
mich ganz bewusst in der etwas altertümlichen Sprache des Marxismus
aus. Paradoxerweise haben heute die Menschen des Worts keine Kontrolle
über die Produktionsmittel und Vertriebswege; sie müssen
sich in Nischen zurückziehen, Umwege gehen.
GRASS:
Damit wir jetzt nicht ins Jammern geraten: Wir sind immer in der Minderheit
gewesen, und das Erstaunliche ist, wenn man sich den Geschichtsprozess
ansieht, wie viel man aus der Minderheit heraus bewirken kann. Man
muss natürlich Taktiken entwickeln, um gehört zu werden.
Ich sehe mich zum Beispiel als Bürger gezwungen, eine Generalvorschrift
des Schriftstellers: "Bitte keine Wiederholungen!" zu brechen. In
der Politik muss man fast wie ein Papagei eine These, die sich bewährt
hat, wiederholen, was ermüdend ist, weil man das Echo der eigenen
Stimme auch immer wieder vernimmt. Aber das gehört offenbar dazu,
um überhaupt in einer so vieltönigen Welt noch irgendwo
Zuhörer zu finden.
BOURDIEU:
Was ich an Ihrem Werk bewundere, ist Ihre Suche nach Ausdrucksmitteln,
die eine kritische, subversive Botschaft an ein großes Publikum
weitergeben können. Ich glaube jedoch, dass sich die Zustände
heute sehr von jenen im Jahrhundert der Aufklärung unterscheiden.
Die Enzyklopädie war eine Waffe, ein Kommunikationsmittel gegen
den Obskurantismus. Zurzeit müssen wir gegen völlig neue
Erscheinungen des Obskurantismus kämpfen.
GRASS:
Aber weiterhin als Minderheit.
BOURDIEU:
Nur waren die Gegenkräfte damals unvergleichlich schwächer.
Heute haben wir es mit mächtigen Medienmultis zu tun, es bleiben
allenfalls kleine Inseln übrig. Im Verlagswesen zum Beispiel
wird die Publikation schwer verdaulicher oder kritischer Bücher
immer mehr zum Problem. Und wenn ich mein Gespräch mit Ihnen
als so wichtig empfinde, dann mit dem Gedanken, neue Formen zu erfinden,
mit denen eine Botschaft erzeugt und weitergegeben werden kann. Anstatt
Werkzeuge des Fernsehens zu sein, müssen wir es selbst zum Werkzeug
der Verständigung machen, im Dienste dessen, was wir sagen wollen.
GRASS:
Der Spielraum ist begrenzt. Hinzu kommt etwas, was mich selbst verwundert:
Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages mehr Staat fordern
müsste. Wir hatten in Deutschland immer zu viel Staat, vor allem
zu viel Ordnungsstaat. Nun aber geraten wir ins andere Extrem. Der
Neoliberalismus hat, ohne damit ideologisch etwas zu tun haben zu
wollen, die Wunschvorstellung des Anarchismus übernommen, den
Staat abzuschaffen, ihn zur Seite zu drängen. Weg mit ihm, wir
machen das schon. Wenn heute eine notwendige Veränderung auf
dem Reformweg stattfindet, ob in Deutschland oder in Frankreich, passiert
nichts, solange die Industrie, die Wirtschaft es nicht abnickt. Von
dieser Entmachtung des Staates hätten die Anarchisten träumen
können, und so befinde ich mich - und Sie wahrscheinlich auch
- in der kuriosen Situation, dafür zu sorgen, dass der Staat
wieder Verantwortung übernimmt, regulierend eingreift.
BOURDIEU:
Genau diese Verkehrung der Dinge meine ich. Aber können wir uns
damit begnügen, "mehr" Staat zu fordern? Um sich nicht in den
Schlingen der konservativen Revolution zu verfangen, müsste man
darüber nachdenken, einen anderen Staat zu erfinden.
GRASS:
Damit wir uns nicht missverstehen: Der Neoliberalismus will natürlich
nur die Dinge aus dem Staat heraushaben, die ihn wirtschaftlich interessieren.
Der Staat darf weiter die Polizei stellen, den Ordnungsstaat repräsentieren.
Aber wenn dem Staat die ordnende Kraft für die Gesellschaftsschichten
weggenommen wird, die außerhalb stehen - nicht nur Sozialfälle,
Kinder und alte Menschen, die aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden
sind oder noch nicht drinnen sind -, wenn sich hier eine Ökonomie
breit macht, die vor jeder Verantwortung in irgendeinen Globalismus
hineinflüchtet, muss der Staat, dann muss die Gesellschaft über
den Staat Für- und Vorsorge treffen. Die Verantwortungslosigkeit
ist das bestimmende Prinzip des neoliberalen Systems.
BOURDIEU:
In Mein Jahrhundert haben Sie eine Reihe von Ereignissen wachgerufen,
zum Beispiel die Geschichte des kleinen Jungen, der zu einer Kundgebung
Liebknechts mitgenommen wird und dann seinem Vater in den Nacken pinkelt.
Ich weiß nicht, ob das eine persönliche Erinnerung ist,
aber in jedem Fall ist es eine ganz eigene Art, den Sozialismus zu
entdecken. Oder was Sie über Jünger und Remarque gesagt
haben: Zwischen den Zeilen stehen viele Dinge über die Rolle
von Intellektuellen, die sich zu Komplizen tragischer Ereignisse machen.
Schön fand ich auch, was Sie zu Heidegger ausführen, dessen
Rhetorik ich ein sehr kritisches Buch gewidmet habe.
GRASS:
Das ist zum Beispiel etwas, was mich amüsiert: die Faszination,
die von französischen Intellektuellen gegenüber Jünger
und Heidegger geäußert wird, weil damit all die Klischeevorstellungen,
die man wechselseitig von Deutschland und Frankreich hat, auf den
Kopf gestellt werden. Dass all das Verqualmte, was in Deutschland
verhängnisvolle Folgen hatte, in Frankreich bewundert wird, ist
absurd.
BOURDIEU:
Weil mich die Heideggersche Mystik befremdet hat und mir zutiefst
widerstrebte, stand ich ziemlich alleine da. Es ist nicht sehr angenehm,
ein aufklärerischer Franzose zu sein in einem Land, das sich
einem derart modernistischen Obskurantismus unterwirft. Heidegger
und Jünger ... Ein Präsident der Französischen Republik
hat Jünger einen Orden angeheftet, das war ein furchtbarer Vorgang.
GRASS:
Diese Geschichte mit Liebknecht. Mir kam es darauf an, dass auf
der einen Seite Karl Liebknecht die Jugend agitiert - eine Fortschrittsbewegung
im Namen des Sozialismus macht sich auf den Weg - und gleichzeitig
der Vater in seiner Begeisterung nicht merkt, dass der Junge runterwill
von den Schultern. Als der Sohn ihm in den Nacken pinkelt, verprügelt
ihn der Vater. Dieses autoritäre Verhalten führt dazu, dass
der Junge sich bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges freiwillig meldet
und damit genau das macht, wovor Liebknecht gewarnt hat. Und was Jünger
und Heidegger betrifft: Vielleicht wäre es für interessierte
französische Intellektuelle nützlicher, mal die deutschen
Aufklärer zur Kenntnis zu nehmen. Es gab ja nicht nur Diderot
und Voltaire, sondern einen Lessing, es gab Lichtenberg - einen übrigens
sehr witzigen Aufklärer, dessen Pointen den Franzosen mehr liegen
müssten als Jünger.
BOURDIEU:
Ernst Cassirer als großer Erbe der Aufklärung hatte nur
bescheidenen Erfolg, während sein Widersacher Heidegger ungeheure
Aufmerksamkeit erregte. Man hat oft den beängstigenden Eindruck,
dass wie durch eine Arglist der Geschichte die Franzosen von den Deutschen
die schlimmen Dinge übernehmen und umgekehrt die Deutschen von
den Franzosen.
GRASS:
In Mein Jahrhundert schildere ich einen Professor, der während
seines Mittwochsseminars überlegt, wie er als Student 1966/67/68
reagiert hat. Damals kommt er aus der Heideggerschen Erhabenheitsphilosophie
und endet auch wieder da. Zwischendurch hat er radikale Aufschwünge
und gehört zu den Leuten, die Adorno auf offener Bühne fertig
machen. Das ist eine sehr typische biografische Linie dieser Zeit.
Ich steckte in den Sechzigern mitten im Geschehen drin: Der Studentenprotest
war etwas Notwendiges und hat mehr bewirkt, als die Sprecher der 68er-Pseudorevolution
wahrhaben wollten. Die Revolution fand zwar nicht statt, es gab gar
keine Basis dafür, aber die Gesellschaft hat sich verändert.
Im Tagebuch einer Schnecke beschreibe ich, wie die Studenten
aufgeheult haben, als ich sagte: Der Fortschritt sei eine Schnecke.
Natürlich könnt ihr verbal den großen Sprung - sie
waren Mao-geschult - machen, aber die übersprungene Phase, nämlich
die darunter liegende Gesellschaft, beeilt sich nicht. Ihr wundert
euch, wenn die Verhältnisse zurückschlagen, und nennt das
dann Konterrevolution - alles im eingefleischten Vokabular eines schon
zu dem Zeitpunkt abgetakelten Kommunismus. Aber es gab wenig Einsehen.
BOURDIEU:
Ich habe 1964 ein Buch veröffentlicht, Die Erben, in dem
ich die Einstellungsunterschiede zwischen Studenten kleinbürgerlicher
und bürgerlicher Herkunft beschreibe. Der politische Radikalismus
war bei bürgerlichen Studenten viel stärker ausgeprägt,
während die Studenten aus dem Kleinbürgertum beziehungsweise
der Arbeiterschaft reformistischer, konservativer waren.
GRASS:
Zumeist haben die Söhne aus zu gutem Hause, wie ich sie etwas
provokativ nannte, den Konflikt mit dem Vater, den sie nicht auszutragen
wagten, weil dann das Geld ausgegangen wäre, auf die Gesellschaft
übertragen.
BOURDIEU:
Es gab 1968 eine ostentative, vor allem symbolische, künstlerische
Revolution - sehr radikal dem Anschein nach. Andererseits gab es Leute,
die gemäßigte Vorschläge einbrachten, um das Bildungswesen
zu ändern, den Hochschulzugang. Damals wurden sie von denselben
Leuten als reformistisch und deshalb lächerlich geächtet,
die heute Konservative sind.
GRASS:
In den siebziger Jahren wuchs in Deutschland und den skandinavischen
Ländern das Bewusstsein, dass es, wenn die Wirtschaft weiter
die Ressourcen ausbeutet, zu einer Zerstörung der Umwelt kommt.
Die ökologische Bewegung entstand. Aber die sozialistischen und
sozialdemokratischen Parteien haben sich allein auf die alte soziale
Frage konzentriert und die Ökologie ausgespart oder als etwas
Feindseliges angesehen, was sich teils bis heute fortsetzt. Wenn wir
von der neoliberalen Seite erwarten, dass sie ihr intellektuelles
Potenzial benutzt, um sich selbst zur Besinnung zu bringen, dann muss
das Gleiche auch an die linke Adresse gesagt werden. Endlich muss
begriffen werden, dass die Ökologie vom Thema Arbeit nicht zu
trennen ist: Alle Entscheidungen müssen die Barriere, ob sie
ökologisch erträglich sind, überspringen.
BOURDIEU:
All diese Pseudobegriffe wie Sozialliberalismus, Blairismus sind Verinnerlichungen
der herrschenden Macht über die Beherrschten. Im Grunde schämen
sich die Europäer ihrer Zivilisation und trauen sich nichts mehr
zu. Das beginnt ganz offensichtlich bei der Wirtschaft, aber nach
und nach dehnt es sich auf den kulturellen Bereich aus, sie schämen
sich ihrer kulturellen Traditionen. Die Europäer leben in einer
Art Sündhaftigkeit, die wahrgenommen und verurteilt wird als
Verteidigung rückständiger Traditionen - im Bereich des
Kinos, in der Literatur und so weiter.
GRASS:
Bei uns verstehen sich die Schröder-Anhänger als Modernisten,
und die anderen werden als Traditionalisten abgetan, was eine aberwitzige
Verkürzung ist. Die Neoliberalen lachen sich doch ins Fäustchen,
wenn sich in Deutschland und in anderen Ländern die Sozialdemokraten
und Sozialisten mit derartigen zu nichts führenden Definitionen
zugrunde richten.
BOURDIEU:
Um das Problem der Kultur zu nehmen: Ich habe mich wirklich gefreut,
dass Ihnen der Nobelpreis verliehen wurde, weil er einen hervorragenden
europäischen Schriftsteller ehrt, der "seinen Mund aufmacht"
und eine Art der Kunst verteidigt, die für gewisse Leute überholt
scheint. Die Kampagne gegen Ihren Roman Ein weites Feld wurde
unter dem Vorwand geführt, dass er in literarischer Hinsicht
veraltet sei. Ebenso werden gegenwärtig mit immer derselben Verdrehung
die formalistischen Errungenschaften der Avantgarde mehr und mehr
als überholt angesehen. In Frankreich gibt es eine regelrechte
Debatte über die zeitgenössische Kunst, wo es im Grunde
um die Autonomie der Kunst gegenüber der Ökonomie geht.
GRASS:
Was den Nobelpreis betrifft: Ich habe ganz gut ohne ihn leben können,
und ich hoffe, es gelingt mir, auch mit ihm zu leben. Manche haben
gesagt: "Endlich!" oder: "Zu spät", aber ich bin froh, dass er
mich erst im fortgeschrittenen Alter jenseits der 70 erreicht hat.
Wenn ein junger Autor den Nobelpreis bekommt, stelle ich mir das als
eine ziemliche Last vor, weil die Erwartungen hochgeschraubt werden.
Heute kann ich damit ironisch umgehen und mich dennoch darüber
freuen. Aber damit soll das Thema, was mich betrifft, erschöpft
sein.
Ich
glaube, wir müssen von uns aus Angebote machen, denen man nicht
ausweichen kann. Die großen Fernsehanstalten sind ja auch ratlos
in ihrem Irr- und Aberglauben an die Einschaltquote. Man muss ihnen
auf die Sprünge helfen. Gleiches gilt für das Verhältnis
zwischen den Nachbarn Deutschland und Frankreich, die sich bis zum
Ausbluten bekämpft haben, deren Wunden noch spürbar sind
und die allerlei rhetorische Bemühungen unternehmen, einander
näher zu kommen. Und auf einmal merkt man: Es ist nicht nur die
Sprachgrenze, es gibt Dimensionen dazwischen, die nicht wahrgenommen
werden. Ich habe es vorhin anklingen lassen, dass wir nicht mal in
der Lage sind, den gemeinsamen Prozess europäischer Aufklärung
anzuerkennen. Das war in Zeiten, als die Nationalstaaten noch nicht
so dominierten, besser. Was in Deutschland passierte, nahmen Franzosen
wahr und umgekehrt; es gab eine Korrespondenz zwischen beiden Gruppen,
die damals als Minderheiten kämpften und den Prozess der Aufklärung
trotz Zensur in Gang gesetzt haben.
Da
gilt es wieder anzuknüpfen, denn wir haben nichts anderes in
der Hand als die Erkenntnisse aus dem Prozess der europäischen
Aufklärung - auch über deren Fehlentwicklung. Wir beklagen
zu Recht, welche Dominanz der Neoliberalismus mittlerweile ausübt
und welche Bereiche er in unverantwortlicher Weise beherrscht. Aber
wir sollten auch überlegen: Was haben wir im Verlauf der europäischen
Aufklärung falsch gemacht? Irgendwie müssen der Kapitalismus
und der Sozialismus als Kinder der Aufklärung wieder an einen
Tisch.
BOURDIEU:
Vielleicht sind Sie da ein wenig optimistisch. Ich glaube, die ökonomischen
und politischen Kräfte des Neoliberalismus lasten so schwer auf
Europa, dass die Errungenschaften der Aufklärung wirklich in
Gefahr geraten. Der französische Historiker Daniel Roche schreibt
gerade ein Buch, in dem er zeigt, dass die Tradition der Aufklärung
in Frankreich und Deutschland sehr verschiedene Bedeutungen hatte.
Unter "Aufklärung" wurde keineswegs das verstanden, was die Franzosen
mit "lumières" meinten. Diese Unterschiede müssen überwunden
werden, wenn man der Zerstörung all dessen Einhalt gebieten will,
was wir mit der Aufklärung verbinden - den Fortschritt der Wissenschaft,
der Technik und die Bändigung dieses Fortschrittes. Es gilt,
einen neuen Utopismus zu erfinden, der sich in den sozialen Kräften
aufgehoben weiß. Auf die Gefahr hin, dass dies als Rückfall
in ein überholtes politisches Denken wahrgenommen wird, geht
es darum, neue soziale Bewegungen lebensfähig zu machen. Die
Gewerkschaften sind in ihrer gegenwärtigen Form nicht mehr zeitgemäß.
Sie müssen sich wandeln, sich neu definieren, internationalisieren,
rationalisieren, sie müssen auch die Sozialwissenschaften bemühen,
um das gut zu tun, was sie tun sollen.
GRASS:
Das bedeutet eine grundlegende Reform der Gewerkschaftsbewegung, und
wir wissen, wie schwer beweglich dieser Apparat ist.
BOURDIEU:
Ja, aber wir können dabei durchaus eine gewisse Rolle übernehmen.
Zum Beispiel ist die soziale Bewegung in den letzten Jahren sehr viel
erfolgreicher gewesen, als sie es aus historischen Gründen lange
Jahre war. Die Traditionen der französischen Arbeiterbewegung
waren immer sehr hemdsärmlig, sehr feindselig den Intellektuellen
gegenüber, zumindest zum Teil. Heute, in Zeiten der Krise, ist
die Arbeiterbewegung sehr viel offener, hellhöriger gegenüber
unseren Einwänden. Sie wird nachdenklicher, nimmt immer stärker
eine neue Form der Kritik auf. Diese kritischen, reflexiven sozialen
Bewegungen sind, so meine ich, die Zukunft.
GRASS:
Ich beurteile das skeptischer. Wir befinden uns beide in einem Alter,
in dem wir zwar versichern können, dass wir, sofern wir gesund
bleiben, weiter den Mund aufmachen werden, aber der Zeitraum ist begrenzt.
Ich weiß nicht, wie es in Frankreich ist - ich glaube, auch
nicht besser -, aber ich sehe bei der jungen Generation im Bereich
der Literatur wenig Bereitschaft und wenig Interesse, diese Tradition,
die zur Aufklärung gehört, nämlich des Mundaufmachens,
des Sicheinmischens, fortzusetzen. Wenn da nichts nachwächst
und uns ablöst, geht auch dieser Teil einer guten europäischen
Tradition verloren.
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