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Der
französische Soziologe Pierre Bourdieu, bekannt für seine
Theorie der Sozioanalyse, mobilisiert für ein neues Projekt:
eine europäische Bewegung gegen den Neoliberalismus. Am 18. und
19. Mai wird er in Zürich einen Vortrag halten und an einem öffentlichen
Seminar teilnehmen. Ein Gespräch mit dem Soziologen in Paris.
WoZ: Herr Bourdieu, am 1. Mai haben Sie einen internationalen Appell
lanciert, den Sie in der französischen Fassung « Für
Generalstände der sozialen Bewegung Europas » nennen.
Pierre Bourdieu: Ja, ja, das ist die Bezeichnung, die wir nach
einigem Nachdenken gefunden haben..
Das Ziel dieses Aufrufes ist es, eine breite soziale Bewegung gegen
den Neoliberalismus zu organisieren.
Genau, genau!
Was motiviert Sie dazu, sich in diesem politischen Kampf zu engagieren?
Nun, ich bin ja schon einige Jahre mit den Verantwortlichen von sozialen
Bewegungen in Kontakt – in Deutschland, in Griechenland, in Frankreich
– und es erschien mir, dass diese sozialen Bewegungen einerseits sehr
stark sind, sehr aktiv und effizient: Man hat es in Seattle gesehen,
man hat es im April in Washington wieder gesehen, man hat die Arbeitslosenmärsche
in Frankreich, in Deutschland gesehen und so weiter. Gleichzeitig
sind die sozialen Bewegungen aber auch sehr zersplittert, und zwar
aus mehreren Gründen. Sie sind oft eng mit ganz speziellen Anliegen
verknüpft – mit der Arbeitslosigkeit, der Obdachlosigkeit, der
Frage der illegalen Einwanderer, der Sache der Frauen oder der Schwulen
zum Beispiel –, und die Unterschiedlichkeit dieser Anliegen hat sie
zersplittert. Zusätzlich stehen sie im Zusammenhang mit verschiedenen
nationalen Traditionen; in Deutschland etwa gibt es soziale Bewegungen,
die im Umkreis der evangelischen Kirchen stehen, in Frankreich gibt
es Bewegungen im Umfeld der Kommunisten, in Spanien gibt es Bewegungen
mit anarchistischer Tradition. Und obwohl diese Bewegungen häufig
gemeinsame Ziele verfolgen, bleiben sie von einander isoliert. In
langen Diskussionen ist uns daher der Gedanke gekommen, dass es notwendig
wäre, so etwas wie eine Koordination dieser Bewegungen aufzubauen.
Es geht aber keinesfalls darum, ein Zentralkomitee der sozialen Bewegungen
einzurichten mit einem Apparat der alten Art – all diese Leute in
den neuen sozialen Bewegungen haben einen Horror vor Apparaten! –,
doch irgend etwas musste gefunden werden. Unser Projekt ist es nun,
Netze zu organisieren.
Wenn Sie « wir » sagen: Wer sind ausser Ihnen die InitiantInnen
des Appells?
« Wir » das sind viele verschiedene Leute aus solchen
Bewegungen. Beispielsweise aus der Arbeitslosenbewegung, der Gewerkschaft
SUD und anderen Organisationen in Frankreich, aus den Gewerkschaften
IG Medien und IG-Metall in Deutschland, viele Gewerkschafter und Intellektuelle
in Griechenland – aus Griechenland kamen die allerersten Unterzeichner
des Appells. Ich könnte Ihnen jetzt eine Liste zeigen mit zweihundert
oder dreihundert Organisationen, die in dem Appell präsent sind,
wichtig ist jedoch, dass die Leute meistens nicht im Namen ihrer Bewegungen
unterzeichnen, sondern als Einzelpersonen. Man weiss aber, wohin sie
gehören.
Gibt es auch UnterzeichnerInnen in der Schweiz?
Ja ja! In der Schweiz hat es Unterzeichner, die, glaube ich, wichtige
Verantwortliche der Gewerkschaften sind.
Der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Paul
Rechsteiner, und der Präsident des GBI, Vasco Pedrina?
Ja, die Präsidenten. Ich vermute, dass auch sie nicht als Gewerkschaftspräsidenten
unterzeichnen, sondern als Personen. Trotzdem heisst es dann: Der
Präsident ist dafür! – Bei den Gewerkschaften gibt es heute
ja sehr, sehr bizarre Situationen. Die Gewerkschaft der Justizangestellten
in Frankreich beispielsweise, eine aktive und progressive Organisation,
hat eine Fraktion, die zum Parti Socialiste gehört. Also unterschreiben
nur die Chefs unseren Appell und nicht die Bewegung.
Sind die Sozialisten gegen den Appell? Haben sie Stellung genommen?
Sie haben nicht direkt Stellung genommen, aber es ist wirklich nicht
schwierig zu wissen, dass die Sozialistische Partei mit unserem Appell
nicht glücklich ist. Sicher hat es Leute in der Partei, die mit
uns einverstanden sind. Aber insgesamt stört der Appell die französischen
Sozialisten sehr, jedenfalls jene, die nur eine Sache im Kopf haben:
dass Lionel Jospin Präsident der Republik wird. Ihnen ist der
Appell peinlich.
Und die Kommunisten?
Den Kommunisten ist er vielleicht noch peinlicher, denn sie neigen
traditionellerweise dazu, sich selber für die einzige soziale
Bewegung zu halten. Doch das sind sehr diffizile Sachen. Schreiben
Sie nicht allzuviel davon! Unsere Bewegung soll nicht durch solche
Dinge gefährdet werden. Wenn diese Bewegung nämlich Erfolg
hat, glaube ich, dann ist sie die grosse Chance für Europa. Es
mag grandios tönen, aber wenn wir etwas anderes wollen als jenes
Europa, welches zur Zeit vorbereitet wird – ein Stützpunkt des
Neoliberalismus, in dem alles gemacht wird, was die ökonomischen
Mächte wünschen –, dann müssen wir diesem Europa auch
etwas anderes entgegenstellen. Wir müssen die Vorstellung eines
sozialen Europas entwickeln. Ein soziales Europa würde sich seiner
grossen wirtschaftlichen Stärke bedienen, um dem Neoliberalismus
zu widerstehen: gegen den Abbau des Sozialstaates, für den Erhalt
der sozialen Errungenschaften. Das wäre die Chance für Europa
und es wäre, glaube ich, auch eine Chance für die Menschheit.
Doch es bleibt eine europäische Bewegung?
Ja, wobei das nicht so einfach ist, denn der Gegner ist ja eben nicht
auf Europa beschränkt, sondern weltweit präsent. Die Aktion
in Seattle hat das symbolisiert. Andererseits ist ein Kampf auf weltweitem
Niveau häufig etwas abstrakt, während der Kampf in Europa
für uns sehr konkret ist: Hier wird verhandelt, hier gibt es
Maastricht, die Europäische Gemeinschaft, welche Entscheidungen
trifft, ein europäisches Parlament, das seine Aufgabe nicht wahrnimmt
und auch gar keine Macht hat. Hier gibt es Herrn Prodi, der einen
Neoliberalismus reinster Art praktiziert und unglaubliche Reden hält.
Hier gibt es einen unmittelbaren Gegner, unmittelbare Gefahren – und
andererseits eine soziale Tradition: Europa ist ein Reservoir von
wichtigen sozialkritischen Kräften, die es zu mobilisieren gilt.
Zu den unmittelbaren Gefahren gehört die Konkurrenz zwischen
den Ländern, das soziale Dumping, dafür ist das Beispiel
der Lastwagenchauffeure sehr typisch: Die Chauffeure in Frankreich
haben soziale Vorteile gegenüber den Chauffeuren in anderen Staaten,
aber heute spricht man über diese Vorteile, als wären sie
ein Fehler. Tatsächlich verfügen die Franzosen aus historischen
Gründen sehr häufig über bessere soziale Errungenschaften
als die Menschen in manchen anderen europäischen Staaten, und
nur aus der Sicht des « Washingtoner Konsenses », der Wirtschaftspolitik
von IWF und Weltbank, ist das eine Schande. Denen gefällt es
nicht, wenn die französischen Chauffeure nur 35 Stunden arbeiten
während die portugiesischen Chauffeure vielleicht 45 oder 50
Stunden arbeiten, dafür aber auch mehr Unfälle machen. Für
die soziale Bewegung in Europa ist es nun sehr wichtig, dass sich
die europäischen Normen und Standards an den höchsten sozialen
Errungenschaften orientieren: Wenn gewählt wird zwischen den
35 Stunden der französischen Routiers und den 45 oder 50 Stunden
der portugiesischen Routiers, dann wählt man die französischen
Routiers, voilà! So gesehen ist der französische Sonderstatus,
die « exception francaise », wirklich nicht schlecht. –
Interessant ist übrigens: Der Präsident der portugiesischen
Republik steht unseren Positionen sehr nahe.
Hat er den Appell unterschrieben?
Nein, als Präsident kann er natürlich nicht unterschreiben.
Wie gesagt, das ist eine Bewegung, in der die Personen sehr wichtig
sind. Es sind nicht die Organisationen, sondern die Personen, die
nachdenken und sich selber Rechenschaft ablegen. Jene Leute, die heute
in sozialen Auseinandersetzungen stehen und die soziale Welt kritisch
beobachten, die sehen doch von selbst, was passiert, und sie sehen
auch die Zukunft. Nehmen wir den Zustand der britischen Spitäler!
Oder auch jenen der französischen Spitäler, die früher
einen ausserordentlichen Standard hatten. Heute ist man dabei, diese
Spitäler komplett zu zerstören. Mir liegt der Text eines
Gespräches vor zwischen einer Delegation von grossen Fachleuten,
Konservativen, welche den Kabinettsdirektor eines sozialistischen
Ministers aufgesucht haben; sie haben das Treffen auf Tonband aufgenommen,
und es ist in der Tat verblüffend. Einer sagte dem Regierungsmann:
« Wissen Sie, in meinem Spital kann man jetzt nachts keine Anästhesie
mehr machen. Stellen Sie sich vor, Ihre Frau würde gebären,
es wäre in der Nacht – was würde passieren! » « Ah,
Monsieur », sagte der andere, « es geht hier nicht um eine
persönliche Frage, darauf gehe ich nicht ein! » – Also,
wir brauchen Bewegungen, die auch Leute organisieren, die nicht notwendigerweise
politisch links stehen, sondern einfach die Verhältnisse durchschauen.
Ist der Appell auch eine Bewegung von Intellektuellen?
Nein, nicht wirklich. Überhaupt nicht. Natürlich hat es
Intellektuelle dabei, in Deutschland zum Beispiel Günter Grass,
aber die bilden nicht die Basis der Bewegung. Man kann es vielleicht
so sagen: Die Verantwortlichen der neuen sozialen Bewegungen sind
häufig Personen mit einem intellektuellen Hintergrund, sehr kultivierte
Leute. Sie finden da Gewerkschaftsführer, die besser in Soziologie
sind als manche Soziologen. Aber das sind nicht Intellektuelle im
Sinn jener Leute, die in den Zeitungen schreiben und im Fernsehen
auftreten.
Welche Rolle spielen denn die Intellektuellen?
Es gibt ja auch gar nicht mehr die starre Aufteilung in Intellektuelle
und Arbeiter, wie man sie früher kannte, das hat sich völlig
verändert. Es gibt heute viele Leute in den Gewerkschaften und
in unserer Bewegung, die gerade durch ihre Arbeit dazu gebracht worden
sind, die Welt intellektuell zu betrachten. Noch vor dreissig Jahren
hatte in Frankreich die Arbeiterbewegung eine ausserordentlich starke
Tradition des Intellektuellenhasses, heute sind es die Leute in den
Gewerkschaften selber, die lesen und nachdenken, während die
eigentlichen Intellektuellen… – Wenn man mich mit dieser Frage nach
den Intellektuellen nervt, von der rechten Seite her, dann sage ich
immer: Die Intellektuellen sind Experten gegen die Experten! Zum Beispiel
gegen einen Mann wie Anthony Giddens; ein britischer Soziologe, der
zum Vordenker der neoliberalen Rechten geworden ist, beziehungsweise
der neoliberalen « Schein- Linke » Tony Blairs. Und wer
zählt nun mehr gegen Giddens als ein Bourdieu? Ich habe die wissenschaftliche
Autorität, und ich kenne seine Waffen! Dasselbe gilt für
die Widerlegung der falschen neoliberalen Nobelpreisträger für
Ökonomie; auch da ist es gut, einen Ökonom zu haben, der
zeigen kann, was ihre Theorien wirklich bedeuten. In diesem Sinne
haben die Intellektuellen eine Rolle, aber sie sind nicht ihre « Führer »
[deutsch] der Bewegung, sie arbeiten innerhalb der Kollektive. Man
braucht sie wegen ihrer Autorität und wegen ihrer technischen
Kompetenz als intellektuelle Arbeiter, die bei einem Problem sagen
können: Voilà, wir werden Euch dies analysieren!
Sie haben einmal gesagt, die Soziologen hätten dabei unter
den Intellektuellen die wichtigste Rolle.
Ja.
Wie meinen Sie das?
Ich meine, dass die Soziologen – per Definition – die soziale Welt
besser kennen sollten als der Durchschnitt der Leute. Als Soziologe
hat man Erkenntnisinstrumente, die einem erlauben, Dinge herauszufinden,
die andere nicht wissen. Zum Beispiel glaubte man noch vor dreissig
Jahren, die Schule sei ein Zugang zur Elite; heute wissen dank der
Soziologie alle, dass die Schule einen sehr grossen Beitrag leistet
zur Reproduktion der sozialen Ungleichheit. Zur Zeit bereiten wir
eine andere grosse soziologische Arbeit vor, die sich als sehr schwierig
erweist, aus technischen Gründen, weil die Statistiken so schlecht
und so falsch sind. Wir versuchen systematisch zu zeigen, dass es
eine Korrelation gibt zwischen der neoliberalen Politik und allen
Phänomenen, welche die Soziologen Anomie nennen: Selbstmord,
Scheidung, Delinquenz, Alkoholismus, Gewalt und so weiter. Daran wird
wissenschaftlich gearbeitet, um den Chefs der europäischen Länder
zu zeigen: Es gibt zwar auf der einen Seite ökonomische Indikatoren,
andererseits gibt es aber auch gesellschaftliche und demographische
Indikatoren. Diese Arbeit können nur die Soziologen machen, und
die « Wissenschaften » – « Wissenschaft » in Anführungszeichen
– die Ökonomie, aber auch die Soziologie, sind heute zu mächtigen
Waffen geworden. Was der Marxismus über die Religion sagte, muss
man heute über gewisse « Wissenschaften » sagen. Es
heisst nicht mehr « Gott ist mit uns », es heisst, « die
Wissenschaft ist mit uns ».
Die Soziologie wäre dabei ein Gegengewicht zur Ökonomie?
Ja.
Traditionellerweise ist es die Politik, die ein solches Gegengewicht
herstellen müsste.
Aber Sie haben ja unseren Appell gelesen: Es gibt ein vollständiges
Versagen der Politiker. Die Politiker der Linken in Frankreich und
in Deutschland – über Blair reden wir gar nicht erst – haben
die kritischen Positionen vollständig aufgegeben.
Machen Sie keinen Unterschied zwischen den Sozialisten Frankreichs
und den Sozialdemokraten in Deutschland?
Wenn ich einen machen würde, dann höchstens den, dass die
Franzosen noch scheinheiliger sind.
In welchem Sinn?
Weil sie eine sozialkritische Bewegung auf ihrer linken Seite haben,
verschleiern sie ihre Positionen besser. Ich würde sagen, es
gibt einen Unterschied in dem Sinne, das die Rhetorik bei den Franzosen
sozialistischer ist. Das ist aber schon alles. Nehmen wir das Gesetz
für die Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich: Die
35-Stunden-Woche ist nämlich eine ganz ausserordentliche Finte
der sozialistischen Regierung! Sie ist sehr schwierig zu analysieren,
und ich hoffe, dass es mir gelingt, einen Forscher zu motivieren,
sich daran zu setzen. Das Gesetz trägt zwar alle Merkmale des
Progressiven, in Wirklichkeit ist es aber zutiefst konservativ, und
überall dort, wo es angewendet wird, brechen Streiks aus. Das
Gesetz erlaubt, dass alle Freiräume verschwinden, die es in der
Arbeitsbeziehung noch gab und die auf ihre Weise die Interessen der
Arbeitenden geschützt haben. Die 35-Stunden-Woche wird als Gelegenheit
benützt, die Kontrolle der Unternehmer und des Staates zu verstärken
und die sozialen Vorteile zum Verschwinden zu bringen. Das ist so
ein Beispiel – bei der Linken im deutschsprachigen Raum gibt es aber
so eine Begeisterung für die Franzosen. Man sagt: « Ah,
Frankreich! » [deutsch], und hält die französischen
Sozialisten immer noch für etwas ganz besonderes. Absurderweise
wird dabei die soziale Bewegung in Frankreich, die gegen die französischen
Sozialisten ist, von den sozialen Bewegungen des Auslandes für
einen Teil des französischen Sozialismus gehalten.
Immer wieder plädieren Sie für eine Rehabilitation des
Sozialstaates und der sozialen Errungenschaften der Vergangenheit.
Ist das nicht ein ziemlich konservatives Projekt, einfach den Staat
zu bewahren, wie er entstanden ist?
So etwas habe ich natürlich nie verlangt, das würde meiner
ganzen wissenschaftlichen Kritik an diesem Staat widersprechen. Natürlich
muss der Staat verändert werden, aber ich glaube, dass es nötig
ist, gewisse staatliche Funktionen zu erhalten – Funktionen auf dem
Gebiet der Solidarität und der Umverteilung. Die Umverteilung
ist eine der wichtigsten Aufgaben des Staates überhaupt: Man
erhebt Steuern und Abgaben und verteilt sie neu, auf eine weniger
elitäre Weise. Solche Funktionen sind zu bewahren und sogar weiter
zu entwickeln! Ausserdem wird der neue Staat ein europäischer
Staat sein, kein Nationalstaat mehr, das ändert schon sehr viel.
Geht es Ihnen nicht auch darum, die europäische Idee des Staates
gegenüber der Idee des US-amerikanischen Staates verteidigen?
Ja. Absolut! Aber das ist eine sehr schwierige Frage, in der die Leute
in unserer Bewegung wohl sehr uneinig sind. – Ich habe von den Funktionen
des Staates gesprochen, die zu verteidigen sind: die öffentlichen
Investitionen zum Beispiel, die öffentlichen Dienste. Es gibt
heute eine systematische Entwertung von allem, was öffentlich
ist. Und gerade im Bereich des Transports, im Bereich der Ökologie
werden erschreckende Entscheide getroffen. Ich komme aus den Pyrenäen;
in einem der schönsten Täler der Pyrenäen, dem Vallée
d'Aspe, das ganz ausserordentlich ist, sehr wild, da bauen sie jetzt
eine vierspurige Autobahn. Sie wird eine der schönsten Landschaft
zerstören. Ich mache nicht in Lokalpatriotismus, aber sie zerstören
wirklich eine der schönsten Landschaften, nur damit die Lastwagen
auf schnellstmögliche Weise französische Spargeln nach Spanien
und spanische Orangen nach Frankreich bringen können. Dabei weiss
man heute sehr genau über alle Aspekte der Verkehrspolitik Bescheid,
was den Bahnverkehr betrifft, den Strassenverkehr, die ökonomische
Bedeutung, die Ökologie, die Unfälle und so weiter. Ein
anderes Beispiel ist der Montblanc-Tunnel: Gerade haben die franzö-sischen
Sozialisten und die französischen « Grünen » –
es war die grüne Ministerin Dominique Voynet – einem Abkommen
über die Wiedereröffnung dieses Tunnels zugestimmt, der
eine fantastische Verschmutzung produziert. Alle Leute in der Region
sind gegen den Tunnel, und nach dem grossen Unfall, nach der Schliessung,
hätte man Gelegenheit gehabt, eine neue Lösung zu suchen,
den Verkehr auf die Eisenbahn umzuleiten, wie sie es in der Schweiz
ja praktizieren. Die Schweiz ist in dieser Hinsicht vorbildlich ,
der Staat muss die Eisenbahnen erhalten und die Lastwagenzahl beschränken!
Aber die privaten Interessen wollen ständig grössere Profite
und damit auch Lastwagen, die ständig etwas grösser, etwas
schwerer, etwas gefährlicher werden und ständig ein bisschen
länger unterwegs sein dürfen. Staatliche Aufgabe ist es,
solche Einzelinteressen, aber auch nationale Interessen oder Standesinteressen
zu transzendierten und Normen aufzustellen. Es braucht einen europäischen
Staat. Aber was für ein Staat das dann sein soll, weiss ich nicht
genau; jedenfalls nicht ein Staat nach französischem Muster.
Warum nicht?
Er ist zu zentralistisch. Es braucht eher eine föderalistische
Staatsform, die nach dem Prinzip der Subsidiarität funktioniert.
Das ist ein sehr sehr gutes Prinzip, es delegiert so viele Dinge wie
möglich auf das lokale Niveau, und gleichzeitig garantiert es
eine Form der gemeinsamen Regulation.
Mit dem föderalistischen Staat haben wir in der Schweiz allerdings
einige Erfahrung. Die lokalen Interessen können sich auch gegenseitig
lähmen.
Ja, oder sie neutralisieren sich. Ich weiss schon. Das ist eines der
grossen Probleme. Deshalb zögere ich auch, wenn es darum geht,
die Staatsform genauer zu definieren. Aber auch wenn es für die
Schweizer so aussehen mag, als funktioniere ihr System zu wenig gut:
Von aussen gesehen ist es gar nicht so schlecht! – Jedenfalls ist
es schwierig eine Utopie für einen europäischen Staat zu
entwerfen. Dieser Staat braucht natürlich auch eine technokratische
Dimension – man sagt ja immer, die Technokratie sei ein Fehler, aber
das stimmt nicht notwendigerweise. Unter den Entscheidungen, die von
den Technokraten in Brüssel getroffen werden, hat es viele, die
exzellent sind: Jene zur Jagd, jene zur Umweltverschmutzung beispielsweise.
Gibt es schon erste Strukturen, erste Ansätze zur Konstruktion
dieses neuen Staates?
Wie gesagt, es ist sehr schwierig. Andererseits: Wenn man einfach
alles so passieren lässt, wird es nie eine Gegenmacht geben,
nie! Der Sinn unseres Appells ist es ja, ein Forum zu kreieren, wo
die Leute Projekte vorstellen und sich ausdrücken können.
Wir werden versuchen, eine Tagung in Athen zu machen; die Griechen
sind bereit, sie zu finanzieren, im März 2001. Daran wird also
gearbeitet, ausserdem arbeiten wir am Projekt einer Charta des europäischen
Staates. Das ist alles noch nicht sehr präzis, aber es ist auch
nicht schlecht. Auf allen Ebenen gibt es Forderungen, die entwickelt
werden, und anstatt immer den herrschenden Diskurs aufzunehmen, könnte
die Medien das einmal aufnehmen. Auch unter den Journalisten gibt
es doch viele Leute, die voll guten Willens sind.
Noch einmal zur Basis dieser Bewegung: Wer sind diese Leute, sind
es auch Arbeitslose, Leute aus prekären Arbeitsplätzen?
Wer ist die Basis?
Ja, was sind das für Leute? Das läßt sich nicht genau
sagen. Ich glaube, es sind ungefähr 15 Prozent der europäischen
Bevölkerung, die zu dieser Bewegung gehören werden. Es ist
nicht eine kleine Minderheit winziger Grüppchen, es ist wesentlich
mehr als das. Wenn ich zum Beispiel in die Provinz fahre und auftrete,
was ich nicht oft mache, dann sehe ich, dass dort wo vor ein paar
Jahren tausend Leute kamen, heute plötzlich fünftausend
kommen. Kürzlich war ich in Neuchâtel, das keine grosse
Kapitale ist, und auch dort füllte sich ein enormer Saal mit
Leuten; es war eine sehr bewegende Situation, ich kam fast nicht zum
Reden. Oder Serge Halimi, der dieses Büchlein geschrieben hat
über das Fernsehen in Frankreich: Bei ihm kommen dreitausend
Leute, und er ist erst 30 Jahre alt. Oder der Erfolg von « Le
Monde diplomatique ». Oder Attac… Ich weiss nicht, was für
Leute es sind, vielleicht ist es eine neue Intelligentsia? Das Bildungsniveau
ist ja sehr viel höher geworden, es gibt heute sehr viele enttäuschte
Leute, die gebildet sind. – Sie nehmen zum Beispiel den Zug und treffen
dort auf einen Billettkontrolleur, der drei Sprachen spricht. Ganz
einfach. Also es gibt viele Leute, die sozial deklassiert wurden,
die einen ausgezeichneten Mittelschulabschluss haben, und die als
Briefträger arbeiten. Es gibt eine ganze Bevölkerungsschicht,
in ganz Europa, von… Max Weber würde vielleicht sagen: proletaroide
Intelligenz.
Akademisches Proletariat?
Ja. Das ist eine soziale Gruppe, die unter Umständen auch sehr
gefährlich werden kann. Nicht die Lebensmittelhändler haben
in Deutschland den Nationalsozialismus gemacht, sondern es war die
Intelligenz, es waren die « Privatdozenten » [deutsch].
In der aktuellen Konjunktur sind diese Leute enerviert, sie finden
keine Befriedigung in den Zeitungen, die sie lesen, oder in dem, was
ihnen die Politik offeriert, und… eben! Diese Leute sind ein Faktor
der Veränderung.
Die eigentlichen Opfer des Neoliberalismus werden von dieser Bewegung
aber noch nicht erfasst?
Nicht direkt, nein. Ich glaube, jene Leute werden mobilisiert auf
dem Umweg über die andern. Historisch ist das vielleicht ganz
ähnlich wie bei den grossen religiösen Bewegungen. Diese
wurden zwar von verarmten Bauern gemacht, aber die Bauern wurden angeführt
von abgesprungenen Ordenspriestern. So ähnlich könnte die
soziale Struktur der neuen Bewegung sein: die Kombination einer proletarisierten
Intelligenz – kultiviert, kritisch, enttäuscht, politisch gebildet
– zusammen mit den Opfern der Geschichte. Auch eine Arbeitslosenbewegung
besteht ja heute nicht einfach aus Arbeitslosen; sie würde gar
nicht vorwärtskommen mit Arbeitslosen allein. Es braucht andere
Leute, welche die Interessen der Arbeitslosen aufnehmen, sich ihrer
annehmen, sie organisieren und mobilisieren. Natürlich besteht
ein Arbeitslosenmarsch aus Arbeitslosen, aber die Anführer solcher
Bewegungen, die « Leader » sind typischerweise Intellektuelle
von der Art, wie ich sie vorhin beschrieben habe: Sehr kultiviert,
sehr intelligent – Leute, die man als akademisches Proletariat betrachten
kann. Der Begriff « intelligentsia prolétaroide »
passt hier sehr gut. Zu anderen Zeiten waren solche Leute in anderen
Bewegungen, zum Beispiel in der Kommunistischen Partei. Der Konkurs
der kommunistischen Bewegung hat hier auch politische Energien freigesetzt,
die vorher eingefroren und erstarrt waren.
Auch der Begriff « États Généraux »
in Ihrem Appell richtet sich – mit seinem Verweis auf die Französische
Revolution – ja eher an gebildete Leute. Er ist übrigens viel
schöner als das Wort « Tagung » in der deutschen Übersetzung.
Klar, der Begriff hat etwas Mystisches, etwas von revolutionärer
Mystik. Wir überlegten uns auch andere Begriffe – « Constituante »
oder « Convention » –, ebenfalls revolutionäre Metaphern,
um bei den Leuten Vertrauen zu wecken. – Die herrschenden Kräfte
bedienen sich ständig solcher Symbole, und zwar sehr geschickt.
Sie haben auch das Geld dafür, im Gegensatz zu uns. Wir haben
im Moment überhaupt kein Geld. Man kann sich gar nicht vorstellen,
auf welche Schwierigkeiten man stösst, wenn man kein Geld hat.
Ich habe hier zwei junge Männer, die mit mir intensiv für
die Charta arbeiten – neben ihrer Forschungstätigkeit. Gestern
abend habe ich bis ein Uhr morgens gearbeitet, Mails überall
hin geschickt. Jeder gibt einen Teil seiner Zeit und seiner Energie.
Hätten wir nur ein Hundertstel von dem Budget, über das
manche Stiftungen verfügen, wäre es viel einfacher. Franz
Schultheis, der in Neuchâtel Professor ist, koordiniert in Deutschland
alles und leistet fantastische Arbeit. Wir müssen enorm viel
Energie aufwenden, um Glaubwürdigkeit hervorzurufen – bei denjenigen,
die mit uns arbeiten, aber auch bei denjenigen, die wir erreichen
wollen. In Griechenland hat ein einziger junger Mann bereits dreihundert
Unterschriften für den Appell gesammelt und die Mittel organisiert,
um drei- bis vierhundert Personen für die geplante Tagung in
Athen zu empfangen. « Les Etats Généraux »,
die müssen wir erst erfinden; ich hoffe, dass in Athen Texte
zur Diskussion gestellt werden, dass kollektive Arbeiten entstehen.
Und nachher müssen wir um dieses Ereignis eine Art Mythologie
schaffen. Man muss wissen, dass in Athen etwas passiert ist. Dabei
wird die Rolle der Journalisten zentral sein. Wenn die Journalisten
nur schreiben, das sei wieder so eine Spinnerei von Bourdieu, dann
wird uns das schaden.
In Ihren Buch « La misère du monde » haben Sie
gezeigt, dass die Opfer des Neoliberalismus sehr verschiedene Menschen
sind und dass sie sehr unterschiedliche Interessen verfolgen. Jetzt
wollen Sie eine Bewegung ins Leben rufen, die sich auf universelle
Werte beruft: Im Widerstand gegen den Neoliberalismus. Wie bringen
Sie das zusammen?
Das ist der grosse Widerspruch. Doch wir sind gezwungen, diesen Widerspruch
zu lösen. Wenn wir nichts machen, werden die Rechtsextremen an
Zulauf gewinnen. Ich habe das in einem Text im Zusammenhang mit Haider
in Österreich geschrieben: Die Abwesenheit einer Bewegung, die
dem Leben einen Sinn gibt, begünstigt den Aufstieg von faschistoiden
Bewegungen. Meiner Meinung nach gehört es zu den Funktionen dieser
sozialen Bewegung, Le Pen und seine Anhänger zu bekämpfen
– es ist nicht ihre Hauptfunktion, aber es ist eine sehr wichtige
Nebenfunktion. 1995, als es in Frankreich zur grossen Streikbewegung
kam, war plötzlich keine Rede mehr von Le Pen. Auch Leute, die
anfällig gewesen wären auf rassistisches Gedankengut, schlossen
sich dieser Streikbewegung an. Es ist wahr, dass die Folgen des Neoliberalismus
dramatisch sind: Er atomisiert die Leute, er bringt sie auseinander,
er zerstört die Gruppen, die Kollektive, die kollektiven Verteidigungstrukturen
und lässt die Leute isoliert zurück, mit antagonistischen
Interessen, mit gegensätzlichen Hoffnungen. All das begünstigt
die Entwicklung faschistoider Bewegungen. Mittellose, verzweifelte
Leute sprechen auf Populismus an. Eine der Funktionen einer neuen
Bewegung ist es nun, diesen Leuten zu sagen, dass all dies kein Zufall
ist, dass es auch nicht die Schuld der Ausländer ist, sondern
das Produkt einer Wirtschaftspolitik – einer Politik, die auch anders
sein könnte. Gerade am Beispiel der politischen Haltung gegenüber
den Immigranten sehen wir ja die Scheinheiligkeit der französischen
Sozialisten: Ihre Politik gegenüber den illegal Eingereisten
war äusserst hart, und auf die Demonstrationen in den Vororten
antworteten sie mit schärfster Repression. Heute führen
sie überall in den Schulen strenge ausländerpolizeiliche
Kontrollen durch, aber für die Integration der Leute haben sie
überhaupt nichts getan. Vor zehn Jahren kritisierte ich Mitterands
Scheinheiligkeit, als er den Immigranten sagte: « Ihr seid hier
bei Euch zu Hause! » Zu Hause? Ohne Identitätskarte, ohne
nichts?
Liegt der Ursprung Ihres politisches Engagements in Ihrer Arbeit
als Forscher für « La misère du monde » oder
forschten Sie umgekehrt gerade aus diesem politischen Engagement heraus?
Beides. Als ich die Arbeit begann, wollte ich einerseits eine neue
Erhebungsmethode testen, andererseits hatte ich auch politische Absichten:
Die Sozialisten waren schon vier, fünf Jahren an der Macht, Wahlen
standen an, und ich wollte davor eine Art Bilanz der sozialistischen
Aktion ziehen – eine reelle Bilanz. Sicher hat die Arbeit dann bei
mir das Gefühl von Dringlichkeit intensiviert. Nachdem ich diese
Dinge gesehen hatte – und ich habe viel mehr gesehen, als im Buch
steht – wurde es für mich unmöglich, mich nicht einzumischen.
Arbeiten Sie zur Zeit wieder an einem so grossen wissenschaftlichen
Projekt wie « La misère du monde »?
Nein, nicht wirklich. Es gibt und gab aber ähnliche Projekte
in anderen Ländern. In der Schweiz hat eine Frau, Claudia Honnegger,
ein analoges Projekt durchgeführt. In Griechenland und in Deutschland
wird ebenfalls an solchen Forschungen gearbeitet. Sie kopieren mich
natürlich nicht, doch meine Arbeit hat Projekte des gleichen
Typus ausgelöst. In Deutschland war die Übersetzung meines
Buches ein grosser Erfolg – sie hat viele Soziologen dazu angeregt,
mehr mit verstehenden Interviews und mündlichen Zeugnissen zu
arbeiten.
Was für Konsequenzen hatte der Erfolg des Buches in Frankreich?
Das ist schwierig zu sagen. Ich denke, es hatte sicher einen grossen
Einfluss. Alle Politiker haben es gelesen, Leute aus der Rechten,
sogar Jacques Chirac hat mir geschrieben, es war erstaunlich. Viele
Politiker waren betroffen, weil kein anständiger Mann dieses
Buch lesen kann, ohne davon betroffen zu sein. Ich bekam auch viele
Reaktionen von Intellektuellen, von Schriftstellern. Doch leider glaube
ich nicht, dass es wirklich politische Konsequenzen nach sich gezogen
hat.
Und wie hat sich « La misère du monde » auf diejenigen
ausgewirkt, die darin ihre Geschichte erzählen? Haben sich für
diese Menschen neue Perspektiven geöffnet?
Es kommt drauf an. Oft war schon allein die Tatsache, reden zu können,
wichtig für sie. Viele haben das übrigens im Buch gesagt.
Doch man müsste noch weitergehen. Ich habe da eine Utopie: eine
Art Weltgesellschaft für Sozioanalyse zu gründen, wie es
sie für die Psychoanalyse gibt. Ich habe im Laufe meiner Arbeit
zunehmend festgestellt, dass viele persönliche Dramen, wegen
denen die Leute Psychoanalytiker aufsuchen, von Soziologen wenigstens
zum Teil behandelt werden könnten. Es gibt so viele arbeitslose
Soziologen, die könnten wir ausbilden, damit sie dann in den
Spitälern, in den Gefängnissen, in den Schulen, in vielen
Institutionen und Kollektiven, den Leuten helfen, ihre persönlichen
Probleme anzugehen. Ich denke zum Beispiel an die zahlreichen Eltern,
die Probleme mit ihren Kindern haben, weil sie in der Schule scheitern.
Ich sage nicht, dass die Soziologen alles lösen könnten,
aber sie könnten vieles erhellen. Zum Beispiel habe ich eine
Freundin, die als Psychoanalytikerin der Schule Melanie Kleins mit
Kindern arbeitet. Ich fragte sie einmal, wie sie mit diesen Kindern
bloss Tests machen könne, ohne sie nach dem Beruf ihres Vaters
zu fragen, das sei doch nicht seriös. Ich habe selbst in meiner
Jugend Rorschach-Tests durchgeführt: Diese können einiges
aufzeigen, doch vieles wird erst klar, wenn man weiss, wessen Tochter
oder Sohn jemand ist. Meine Freundin fing an, solche Dinge einzubeziehen.
Sie hatte zum Beispiel den Fall eines Jungen, der sich ständig
Verletzungen zuführte. Dann entdeckte sie, dass der Vater dieses
Bubs ein erfolgreicher Polytechniker war, der seinem Sohn ständig
zu verstehen gab, dass er nichts wert war. Der Vater war Polytechniker
– nicht Strassenwischer oder Arbeitsloser. Das ist wichtig, wird aber
in der Psychoanalyse praktisch ausgeklammert. Die Psychologie und
die Psychoanalyse stehen in einer individualistischen Tradition, und
wir wollen hier die gesellschaftliche Komponente einführen. –
Sie haben mich vorhin gefragt, was die Rolle der Intellektuellen in
einer sozialen Bewegung sein könnte: Ich meine, es könnte
die Sozioanalyse sein. Die sozialen Bewegungen werden ja von Menschen
gemacht, die alle ihre sozialen Bestrebungen, ihre Ressentiments und
ihre Ängste haben. Viele Unglücke der Geschichte können
so betrachtet werden: Stalin, ein abgesprungener Pfarrer aus der Provinz,
war neidisch auf den international ausgerichteten Lenin, der in der
Schweiz studiert hatte. Das erklärt doch manches.
Kommen wir auf die Rolle der Gewerkschaften zurück. Sie haben
geschrieben: « Der europäische Syndikalismus muss erst erfunden
werden. »
Oft wird uns in Zusammenhang mit diesem Projekt vorgeworfen, dass
es das alles schon gibt: Es gibt ein europäisches Parlament,
es gibt eine europäische Föderation der Gewerkschaften.
Ich sage aber: Nichts ist schon gemacht! Scheinbar gibt es in Europa
alles, aber in Wirklichkeit gibt es gar nichts. Die europäische
Gewerkschaftsföderation ist eine reine Lobby; es gibt keine wirkliche
europäische Gewerkschaftsbewegung. Die Frage ist: Wie könnte
sich eine solche bilden? Wäre sie eine Föderation der bereits
bestehenden Gewerkschaften? Das würde eine Menge Verhandlungen
voraussetzen. Aber vielleicht könnte sie auch auf Druck einer
Bewegung von Minderheitsgruppen entstehen, die auf europäischer
Ebene Kämpfe führen, welche von den Gewerkschaften selber
vernachlässigt werden. Wenn wir einen europäischen Syndikalismus
wollen, müssen wir Druck aufbauen, um die Gewerkschaften zu einer
Veränderung zu zwingen. Dazu brauchen wir Verbündete in
den Gewerkschaften selber. Zum Beispiel gibt es in der deutschen IG
Metall sehr einflussreiche Leute, die mit uns sind – in der IG Medien
ebenfalls, was kein Zufall ist, weil sich dort die Intellektuellen
befinden. Sehr wichtig sind auch die Gewerkschaften der kleinen Länder.
Die Griechen spielen eine zentrale Rolle, weil sie ein kleines Land
vertreten und sich vielleicht mit den Portugiesen zusammenschliessen
könnten. Auch die Dänen sind wichtig, und die Schweiz könnte
eine interessante Rolle spielen. Man muss den sozialen Kräften
helfen...
Es wird also eher eine Mobilisierung der Köpfe der Gewerkschaften
sein, eine Mobilisierung von oben?
Es gibt auch den Fall, dass die Basis mitmacht und der Kopf nicht
folgt. Die Basis bewegt sich, und der Kopf verteidigt die Interessen
des Apparats. Ganze Gewerkschaftsapparate hängen von der Existenz
der europäischen Strukturen ab. All diese Apparatschniks beherrschen
die Fremdsprachen, sie sind gebildet – und sie sind von der Basis
abgeschnitten. Das sind Dinge, die alle wissen, aber niemand getraut
sich, es offen auszusprechen. Überhaupt sind die sozialen Bewegungen
sehr heterogen, mit riesigen internen Widersprüchen, die nicht
analysiert werden. Hier könnte man die Sozioanalyse, von der
ich vorhin sprach, sehr gut anwenden. Jemandem, der in einer gewissen
Position nicht weiter kommt, könnte man erklären, dass dies
mit seiner sozialen Position zu tun hat, vielleicht auch mit der Tatsache,
dass er im Studium gescheitert ist.
Was wird für Sie die nächste Etappe sein, nachdem sie
am 1. Mai die Charta lanciert haben?
Die nächste Etappe werden transnationale Arbeitstreffen sein,
in Belgien, in Österreich, in anderen Ländern, um spezifische
Punkte der Charta weiter zu entwickeln und um das grosse Treffen nächstes
Jahr in Athen vorzubereiten. Dort sollen dann die Arbeiten der verschiedenen
Gruppen diskutiert werden. Natürlich sind auch Publikationen
geplant. Wir haben unsere Bücherreihe « Raisons d'agir »:
Die Texte liegen ganz frisch in deutscher Übersetzung* vor, jetzt
sollen sie auch in Englisch erscheinen. Das alles soll zu einem Netzwerk
heranwachsen – zu einer Art von gemeinsamem intellektuellem Instrument.
Es sind aber auch Interventionen und Stellungnahmen zu bestimmten
Problemen vorgesehen: Zum Beispiel findet im Herbst in Nizza ein Treffen
statt, wenn Frankreich die Präsidentschaft Europas übernimmt.
Voraussichtlich werden wir uns dort einmischen.
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