Maison Écrivez-nous !  

Société

Textes

Images

Musiques

  Pierre Bourdieu

 
   

sociologue énervant

 
   

 

Des textes sur et autour
 

 
   


fichier .rtf
   

pointj.gif (73 octets) Les pages Bourdieu

 

 

 

Pierre Bourdieu

 « Vernetzt Euch »

 

 

écrire au site
(Ungekürzte Version)
Interview Stefan Keller, Verena Mühlberger
WochenZeitung, 11/05/2000. http://www.woz.ch/

[Version française]

 


   

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, bekannt für seine Theorie der Sozioanalyse, mobilisiert für ein neues Projekt: eine europäische Bewegung gegen den Neoliberalismus. Am 18. und 19. Mai wird er in Zürich einen Vortrag halten und an einem öffentlichen Seminar teilnehmen. Ein Gespräch mit dem Soziologen in Paris.

WoZ: Herr Bourdieu, am 1. Mai haben Sie einen internationalen Appell lanciert, den Sie in der französischen Fassung « Für Generalstände der sozialen Bewegung Europas » nennen.
Pierre Bourdieu:
Ja, ja, das ist die Bezeichnung, die wir nach einigem Nachdenken gefunden haben..
Das Ziel dieses Aufrufes ist es, eine breite soziale Bewegung gegen den Neoliberalismus zu organisieren.

Genau, genau!
Was motiviert Sie dazu, sich in diesem politischen Kampf zu engagieren?
Nun, ich bin ja schon einige Jahre mit den Verantwortlichen von sozialen Bewegungen in Kontakt – in Deutschland, in Griechenland, in Frankreich – und es erschien mir, dass diese sozialen Bewegungen einerseits sehr stark sind, sehr aktiv und effizient: Man hat es in Seattle gesehen, man hat es im April in Washington wieder gesehen, man hat die Arbeitslosenmärsche in Frankreich, in Deutschland gesehen und so weiter. Gleichzeitig sind die sozialen Bewegungen aber auch sehr zersplittert, und zwar aus mehreren Gründen. Sie sind oft eng mit ganz speziellen Anliegen verknüpft – mit der Arbeitslosigkeit, der Obdachlosigkeit, der Frage der illegalen Einwanderer, der Sache der Frauen oder der Schwulen zum Beispiel –, und die Unterschiedlichkeit dieser Anliegen hat sie zersplittert. Zusätzlich stehen sie im Zusammenhang mit verschiedenen nationalen Traditionen; in Deutschland etwa gibt es soziale Bewegungen, die im Umkreis der evangelischen Kirchen stehen, in Frankreich gibt es Bewegungen im Umfeld der Kommunisten, in Spanien gibt es Bewegungen mit anarchistischer Tradition. Und obwohl diese Bewegungen häufig gemeinsame Ziele verfolgen, bleiben sie von einander isoliert. In langen Diskussionen ist uns daher der Gedanke gekommen, dass es notwendig wäre, so etwas wie eine Koordination dieser Bewegungen aufzubauen. Es geht aber keinesfalls darum, ein Zentralkomitee der sozialen Bewegungen einzurichten mit einem Apparat der alten Art – all diese Leute in den neuen sozialen Bewegungen haben einen Horror vor Apparaten! –, doch irgend etwas musste gefunden werden. Unser Projekt ist es nun, Netze zu organisieren.

Wenn Sie « wir » sagen: Wer sind ausser Ihnen die InitiantInnen des Appells?
« Wir » das sind viele verschiedene Leute aus solchen Bewegungen. Beispielsweise aus der Arbeitslosenbewegung, der Gewerkschaft SUD und anderen Organisationen in Frankreich, aus den Gewerkschaften IG Medien und IG-Metall in Deutschland, viele Gewerkschafter und Intellektuelle in Griechenland – aus Griechenland kamen die allerersten Unterzeichner des Appells. Ich könnte Ihnen jetzt eine Liste zeigen mit zweihundert oder dreihundert Organisationen, die in dem Appell präsent sind, wichtig ist jedoch, dass die Leute meistens nicht im Namen ihrer Bewegungen unterzeichnen, sondern als Einzelpersonen. Man weiss aber, wohin sie gehören.

Gibt es auch UnterzeichnerInnen in der Schweiz?
Ja ja! In der Schweiz hat es Unterzeichner, die, glaube ich, wichtige Verantwortliche der Gewerkschaften sind.

Der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Paul Rechsteiner, und der Präsident des GBI, Vasco Pedrina?
Ja, die Präsidenten. Ich vermute, dass auch sie nicht als Gewerkschaftspräsidenten unterzeichnen, sondern als Personen. Trotzdem heisst es dann: Der Präsident ist dafür! – Bei den Gewerkschaften gibt es heute ja sehr, sehr bizarre Situationen. Die Gewerkschaft der Justizangestellten in Frankreich beispielsweise, eine aktive und progressive Organisation, hat eine Fraktion, die zum Parti Socialiste gehört. Also unterschreiben nur die Chefs unseren Appell und nicht die Bewegung.

Sind die Sozialisten gegen den Appell? Haben sie Stellung genommen?
Sie haben nicht direkt Stellung genommen, aber es ist wirklich nicht schwierig zu wissen, dass die Sozialistische Partei mit unserem Appell nicht glücklich ist. Sicher hat es Leute in der Partei, die mit uns einverstanden sind. Aber insgesamt stört der Appell die französischen Sozialisten sehr, jedenfalls jene, die nur eine Sache im Kopf haben: dass Lionel Jospin Präsident der Republik wird. Ihnen ist der Appell peinlich.

Und die Kommunisten?
Den Kommunisten ist er vielleicht noch peinlicher, denn sie neigen traditionellerweise dazu, sich selber für die einzige soziale Bewegung zu halten. Doch das sind sehr diffizile Sachen. Schreiben Sie nicht allzuviel davon! Unsere Bewegung soll nicht durch solche Dinge gefährdet werden. Wenn diese Bewegung nämlich Erfolg hat, glaube ich, dann ist sie die grosse Chance für Europa. Es mag grandios tönen, aber wenn wir etwas anderes wollen als jenes Europa, welches zur Zeit vorbereitet wird – ein Stützpunkt des Neoliberalismus, in dem alles gemacht wird, was die ökonomischen Mächte wünschen –, dann müssen wir diesem Europa auch etwas anderes entgegenstellen. Wir müssen die Vorstellung eines sozialen Europas entwickeln. Ein soziales Europa würde sich seiner grossen wirtschaftlichen Stärke bedienen, um dem Neoliberalismus zu widerstehen: gegen den Abbau des Sozialstaates, für den Erhalt der sozialen Errungenschaften. Das wäre die Chance für Europa und es wäre, glaube ich, auch eine Chance für die Menschheit.

Doch es bleibt eine europäische Bewegung?
Ja, wobei das nicht so einfach ist, denn der Gegner ist ja eben nicht auf Europa beschränkt, sondern weltweit präsent. Die Aktion in Seattle hat das symbolisiert. Andererseits ist ein Kampf auf weltweitem Niveau häufig etwas abstrakt, während der Kampf in Europa für uns sehr konkret ist: Hier wird verhandelt, hier gibt es Maastricht, die Europäische Gemeinschaft, welche Entscheidungen trifft, ein europäisches Parlament, das seine Aufgabe nicht wahrnimmt und auch gar keine Macht hat. Hier gibt es Herrn Prodi, der einen Neoliberalismus reinster Art praktiziert und unglaubliche Reden hält. Hier gibt es einen unmittelbaren Gegner, unmittelbare Gefahren – und andererseits eine soziale Tradition: Europa ist ein Reservoir von wichtigen sozialkritischen Kräften, die es zu mobilisieren gilt. Zu den unmittelbaren Gefahren gehört die Konkurrenz zwischen den Ländern, das soziale Dumping, dafür ist das Beispiel der Lastwagenchauffeure sehr typisch: Die Chauffeure in Frankreich haben soziale Vorteile gegenüber den Chauffeuren in anderen Staaten, aber heute spricht man über diese Vorteile, als wären sie ein Fehler. Tatsächlich verfügen die Franzosen aus historischen Gründen sehr häufig über bessere soziale Errungenschaften als die Menschen in manchen anderen europäischen Staaten, und nur aus der Sicht des « Washingtoner Konsenses », der Wirtschaftspolitik von IWF und Weltbank, ist das eine Schande. Denen gefällt es nicht, wenn die französischen Chauffeure nur 35 Stunden arbeiten während die portugiesischen Chauffeure vielleicht 45 oder 50 Stunden arbeiten, dafür aber auch mehr Unfälle machen. Für die soziale Bewegung in Europa ist es nun sehr wichtig, dass sich die europäischen Normen und Standards an den höchsten sozialen Errungenschaften orientieren: Wenn gewählt wird zwischen den 35 Stunden der französischen Routiers und den 45 oder 50 Stunden der portugiesischen Routiers, dann wählt man die französischen Routiers, voilà! So gesehen ist der französische Sonderstatus, die « exception francaise », wirklich nicht schlecht. – Interessant ist übrigens: Der Präsident der portugiesischen Republik steht unseren Positionen sehr nahe.

Hat er den Appell unterschrieben?
Nein, als Präsident kann er natürlich nicht unterschreiben. Wie gesagt, das ist eine Bewegung, in der die Personen sehr wichtig sind. Es sind nicht die Organisationen, sondern die Personen, die nachdenken und sich selber Rechenschaft ablegen. Jene Leute, die heute in sozialen Auseinandersetzungen stehen und die soziale Welt kritisch beobachten, die sehen doch von selbst, was passiert, und sie sehen auch die Zukunft. Nehmen wir den Zustand der britischen Spitäler! Oder auch jenen der französischen Spitäler, die früher einen ausserordentlichen Standard hatten. Heute ist man dabei, diese Spitäler komplett zu zerstören. Mir liegt der Text eines Gespräches vor zwischen einer Delegation von grossen Fachleuten, Konservativen, welche den Kabinettsdirektor eines sozialistischen Ministers aufgesucht haben; sie haben das Treffen auf Tonband aufgenommen, und es ist in der Tat verblüffend. Einer sagte dem Regierungsmann: « Wissen Sie, in meinem Spital kann man jetzt nachts keine Anästhesie mehr machen. Stellen Sie sich vor, Ihre Frau würde gebären, es wäre in der Nacht – was würde passieren! » « Ah, Monsieur », sagte der andere, « es geht hier nicht um eine persönliche Frage, darauf gehe ich nicht ein! » – Also, wir brauchen Bewegungen, die auch Leute organisieren, die nicht notwendigerweise politisch links stehen, sondern einfach die Verhältnisse durchschauen.

Ist der Appell auch eine Bewegung von Intellektuellen?
Nein, nicht wirklich. Überhaupt nicht. Natürlich hat es Intellektuelle dabei, in Deutschland zum Beispiel Günter Grass, aber die bilden nicht die Basis der Bewegung. Man kann es vielleicht so sagen: Die Verantwortlichen der neuen sozialen Bewegungen sind häufig Personen mit einem intellektuellen Hintergrund, sehr kultivierte Leute. Sie finden da Gewerkschaftsführer, die besser in Soziologie sind als manche Soziologen. Aber das sind nicht Intellektuelle im Sinn jener Leute, die in den Zeitungen schreiben und im Fernsehen auftreten.

Welche Rolle spielen denn die Intellektuellen?
Es gibt ja auch gar nicht mehr die starre Aufteilung in Intellektuelle und Arbeiter, wie man sie früher kannte, das hat sich völlig verändert. Es gibt heute viele Leute in den Gewerkschaften und in unserer Bewegung, die gerade durch ihre Arbeit dazu gebracht worden sind, die Welt intellektuell zu betrachten. Noch vor dreissig Jahren hatte in Frankreich die Arbeiterbewegung eine ausserordentlich starke Tradition des Intellektuellenhasses, heute sind es die Leute in den Gewerkschaften selber, die lesen und nachdenken, während die eigentlichen Intellektuellen… – Wenn man mich mit dieser Frage nach den Intellektuellen nervt, von der rechten Seite her, dann sage ich immer: Die Intellektuellen sind Experten gegen die Experten! Zum Beispiel gegen einen Mann wie Anthony Giddens; ein britischer Soziologe, der zum Vordenker der neoliberalen Rechten geworden ist, beziehungsweise der neoliberalen « Schein- Linke » Tony Blairs. Und wer zählt nun mehr gegen Giddens als ein Bourdieu? Ich habe die wissenschaftliche Autorität, und ich kenne seine Waffen! Dasselbe gilt für die Widerlegung der falschen neoliberalen Nobelpreisträger für Ökonomie; auch da ist es gut, einen Ökonom zu haben, der zeigen kann, was ihre Theorien wirklich bedeuten. In diesem Sinne haben die Intellektuellen eine Rolle, aber sie sind nicht ihre « Führer » [deutsch] der Bewegung, sie arbeiten innerhalb der Kollektive. Man braucht sie wegen ihrer Autorität und wegen ihrer technischen Kompetenz als intellektuelle Arbeiter, die bei einem Problem sagen können: Voilà, wir werden Euch dies analysieren!

Sie haben einmal gesagt, die Soziologen hätten dabei unter den Intellektuellen die wichtigste Rolle.
Ja.

Wie meinen Sie das?
Ich meine, dass die Soziologen – per Definition – die soziale Welt besser kennen sollten als der Durchschnitt der Leute. Als Soziologe hat man Erkenntnisinstrumente, die einem erlauben, Dinge herauszufinden, die andere nicht wissen. Zum Beispiel glaubte man noch vor dreissig Jahren, die Schule sei ein Zugang zur Elite; heute wissen dank der Soziologie alle, dass die Schule einen sehr grossen Beitrag leistet zur Reproduktion der sozialen Ungleichheit. Zur Zeit bereiten wir eine andere grosse soziologische Arbeit vor, die sich als sehr schwierig erweist, aus technischen Gründen, weil die Statistiken so schlecht und so falsch sind. Wir versuchen systematisch zu zeigen, dass es eine Korrelation gibt zwischen der neoliberalen Politik und allen Phänomenen, welche die Soziologen Anomie nennen: Selbstmord, Scheidung, Delinquenz, Alkoholismus, Gewalt und so weiter. Daran wird wissenschaftlich gearbeitet, um den Chefs der europäischen Länder zu zeigen: Es gibt zwar auf der einen Seite ökonomische Indikatoren, andererseits gibt es aber auch gesellschaftliche und demographische Indikatoren. Diese Arbeit können nur die Soziologen machen, und die « Wissenschaften » – « Wissenschaft » in Anführungszeichen – die Ökonomie, aber auch die Soziologie, sind heute zu mächtigen Waffen geworden. Was der Marxismus über die Religion sagte, muss man heute über gewisse « Wissenschaften » sagen. Es heisst nicht mehr « Gott ist mit uns », es heisst, « die Wissenschaft ist mit uns ».

Die Soziologie wäre dabei ein Gegengewicht zur Ökonomie?
Ja.

Traditionellerweise ist es die Politik, die ein solches Gegengewicht herstellen müsste.
Aber Sie haben ja unseren Appell gelesen: Es gibt ein vollständiges Versagen der Politiker. Die Politiker der Linken in Frankreich und in Deutschland – über Blair reden wir gar nicht erst – haben die kritischen Positionen vollständig aufgegeben.

Machen Sie keinen Unterschied zwischen den Sozialisten Frankreichs und den Sozialdemokraten in Deutschland?
Wenn ich einen machen würde, dann höchstens den, dass die Franzosen noch scheinheiliger sind.

In welchem Sinn?
Weil sie eine sozialkritische Bewegung auf ihrer linken Seite haben, verschleiern sie ihre Positionen besser. Ich würde sagen, es gibt einen Unterschied in dem Sinne, das die Rhetorik bei den Franzosen sozialistischer ist. Das ist aber schon alles. Nehmen wir das Gesetz für die Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich: Die 35-Stunden-Woche ist nämlich eine ganz ausserordentliche Finte der sozialistischen Regierung! Sie ist sehr schwierig zu analysieren, und ich hoffe, dass es mir gelingt, einen Forscher zu motivieren, sich daran zu setzen. Das Gesetz trägt zwar alle Merkmale des Progressiven, in Wirklichkeit ist es aber zutiefst konservativ, und überall dort, wo es angewendet wird, brechen Streiks aus. Das Gesetz erlaubt, dass alle Freiräume verschwinden, die es in der Arbeitsbeziehung noch gab und die auf ihre Weise die Interessen der Arbeitenden geschützt haben. Die 35-Stunden-Woche wird als Gelegenheit benützt, die Kontrolle der Unternehmer und des Staates zu verstärken und die sozialen Vorteile zum Verschwinden zu bringen. Das ist so ein Beispiel – bei der Linken im deutschsprachigen Raum gibt es aber so eine Begeisterung für die Franzosen. Man sagt: « Ah, Frankreich! » [deutsch], und hält die französischen Sozialisten immer noch für etwas ganz besonderes. Absurderweise wird dabei die soziale Bewegung in Frankreich, die gegen die französischen Sozialisten ist, von den sozialen Bewegungen des Auslandes für einen Teil des französischen Sozialismus gehalten.

Immer wieder plädieren Sie für eine Rehabilitation des Sozialstaates und der sozialen Errungenschaften der Vergangenheit. Ist das nicht ein ziemlich konservatives Projekt, einfach den Staat zu bewahren, wie er entstanden ist?
So etwas habe ich natürlich nie verlangt, das würde meiner ganzen wissenschaftlichen Kritik an diesem Staat widersprechen. Natürlich muss der Staat verändert werden, aber ich glaube, dass es nötig ist, gewisse staatliche Funktionen zu erhalten – Funktionen auf dem Gebiet der Solidarität und der Umverteilung. Die Umverteilung ist eine der wichtigsten Aufgaben des Staates überhaupt: Man erhebt Steuern und Abgaben und verteilt sie neu, auf eine weniger elitäre Weise. Solche Funktionen sind zu bewahren und sogar weiter zu entwickeln! Ausserdem wird der neue Staat ein europäischer Staat sein, kein Nationalstaat mehr, das ändert schon sehr viel.

Geht es Ihnen nicht auch darum, die europäische Idee des Staates gegenüber der Idee des US-amerikanischen Staates verteidigen?
Ja. Absolut! Aber das ist eine sehr schwierige Frage, in der die Leute in unserer Bewegung wohl sehr uneinig sind. – Ich habe von den Funktionen des Staates gesprochen, die zu verteidigen sind: die öffentlichen Investitionen zum Beispiel, die öffentlichen Dienste. Es gibt heute eine systematische Entwertung von allem, was öffentlich ist. Und gerade im Bereich des Transports, im Bereich der Ökologie werden erschreckende Entscheide getroffen. Ich komme aus den Pyrenäen; in einem der schönsten Täler der Pyrenäen, dem Vallée d'Aspe, das ganz ausserordentlich ist, sehr wild, da bauen sie jetzt eine vierspurige Autobahn. Sie wird eine der schönsten Landschaft zerstören. Ich mache nicht in Lokalpatriotismus, aber sie zerstören wirklich eine der schönsten Landschaften, nur damit die Lastwagen auf schnellstmögliche Weise französische Spargeln nach Spanien und spanische Orangen nach Frankreich bringen können. Dabei weiss man heute sehr genau über alle Aspekte der Verkehrspolitik Bescheid, was den Bahnverkehr betrifft, den Strassenverkehr, die ökonomische Bedeutung, die Ökologie, die Unfälle und so weiter. Ein anderes Beispiel ist der Montblanc-Tunnel: Gerade haben die franzö-sischen Sozialisten und die französischen « Grünen » – es war die grüne Ministerin Dominique Voynet – einem Abkommen über die Wiedereröffnung dieses Tunnels zugestimmt, der eine fantastische Verschmutzung produziert. Alle Leute in der Region sind gegen den Tunnel, und nach dem grossen Unfall, nach der Schliessung, hätte man Gelegenheit gehabt, eine neue Lösung zu suchen, den Verkehr auf die Eisenbahn umzuleiten, wie sie es in der Schweiz ja praktizieren. Die Schweiz ist in dieser Hinsicht vorbildlich , der Staat muss die Eisenbahnen erhalten und die Lastwagenzahl beschränken! Aber die privaten Interessen wollen ständig grössere Profite und damit auch Lastwagen, die ständig etwas grösser, etwas schwerer, etwas gefährlicher werden und ständig ein bisschen länger unterwegs sein dürfen. Staatliche Aufgabe ist es, solche Einzelinteressen, aber auch nationale Interessen oder Standesinteressen zu transzendierten und Normen aufzustellen. Es braucht einen europäischen Staat. Aber was für ein Staat das dann sein soll, weiss ich nicht genau; jedenfalls nicht ein Staat nach französischem Muster.

Warum nicht?
Er ist zu zentralistisch. Es braucht eher eine föderalistische Staatsform, die nach dem Prinzip der Subsidiarität funktioniert. Das ist ein sehr sehr gutes Prinzip, es delegiert so viele Dinge wie möglich auf das lokale Niveau, und gleichzeitig garantiert es eine Form der gemeinsamen Regulation.

Mit dem föderalistischen Staat haben wir in der Schweiz allerdings einige Erfahrung. Die lokalen Interessen können sich auch gegenseitig lähmen.
Ja, oder sie neutralisieren sich. Ich weiss schon. Das ist eines der grossen Probleme. Deshalb zögere ich auch, wenn es darum geht, die Staatsform genauer zu definieren. Aber auch wenn es für die Schweizer so aussehen mag, als funktioniere ihr System zu wenig gut: Von aussen gesehen ist es gar nicht so schlecht! – Jedenfalls ist es schwierig eine Utopie für einen europäischen Staat zu entwerfen. Dieser Staat braucht natürlich auch eine technokratische Dimension – man sagt ja immer, die Technokratie sei ein Fehler, aber das stimmt nicht notwendigerweise. Unter den Entscheidungen, die von den Technokraten in Brüssel getroffen werden, hat es viele, die exzellent sind: Jene zur Jagd, jene zur Umweltverschmutzung beispielsweise.

Gibt es schon erste Strukturen, erste Ansätze zur Konstruktion dieses neuen Staates?
Wie gesagt, es ist sehr schwierig. Andererseits: Wenn man einfach alles so passieren lässt, wird es nie eine Gegenmacht geben, nie! Der Sinn unseres Appells ist es ja, ein Forum zu kreieren, wo die Leute Projekte vorstellen und sich ausdrücken können. Wir werden versuchen, eine Tagung in Athen zu machen; die Griechen sind bereit, sie zu finanzieren, im März 2001. Daran wird also gearbeitet, ausserdem arbeiten wir am Projekt einer Charta des europäischen Staates. Das ist alles noch nicht sehr präzis, aber es ist auch nicht schlecht. Auf allen Ebenen gibt es Forderungen, die entwickelt werden, und anstatt immer den herrschenden Diskurs aufzunehmen, könnte die Medien das einmal aufnehmen. Auch unter den Journalisten gibt es doch viele Leute, die voll guten Willens sind.

Noch einmal zur Basis dieser Bewegung: Wer sind diese Leute, sind es auch Arbeitslose, Leute aus prekären Arbeitsplätzen? Wer ist die Basis?
Ja, was sind das für Leute? Das läßt sich nicht genau sagen. Ich glaube, es sind ungefähr 15 Prozent der europäischen Bevölkerung, die zu dieser Bewegung gehören werden. Es ist nicht eine kleine Minderheit winziger Grüppchen, es ist wesentlich mehr als das. Wenn ich zum Beispiel in die Provinz fahre und auftrete, was ich nicht oft mache, dann sehe ich, dass dort wo vor ein paar Jahren tausend Leute kamen, heute plötzlich fünftausend kommen. Kürzlich war ich in Neuchâtel, das keine grosse Kapitale ist, und auch dort füllte sich ein enormer Saal mit Leuten; es war eine sehr bewegende Situation, ich kam fast nicht zum Reden. Oder Serge Halimi, der dieses Büchlein geschrieben hat über das Fernsehen in Frankreich: Bei ihm kommen dreitausend Leute, und er ist erst 30 Jahre alt. Oder der Erfolg von « Le Monde diplomatique ». Oder Attac… Ich weiss nicht, was für Leute es sind, vielleicht ist es eine neue Intelligentsia? Das Bildungsniveau ist ja sehr viel höher geworden, es gibt heute sehr viele enttäuschte Leute, die gebildet sind. – Sie nehmen zum Beispiel den Zug und treffen dort auf einen Billettkontrolleur, der drei Sprachen spricht. Ganz einfach. Also es gibt viele Leute, die sozial deklassiert wurden, die einen ausgezeichneten Mittelschulabschluss haben, und die als Briefträger arbeiten. Es gibt eine ganze Bevölkerungsschicht, in ganz Europa, von… Max Weber würde vielleicht sagen: proletaroide Intelligenz.

Akademisches Proletariat?
Ja. Das ist eine soziale Gruppe, die unter Umständen auch sehr gefährlich werden kann. Nicht die Lebensmittelhändler haben in Deutschland den Nationalsozialismus gemacht, sondern es war die Intelligenz, es waren die « Privatdozenten » [deutsch]. In der aktuellen Konjunktur sind diese Leute enerviert, sie finden keine Befriedigung in den Zeitungen, die sie lesen, oder in dem, was ihnen die Politik offeriert, und… eben! Diese Leute sind ein Faktor der Veränderung.

Die eigentlichen Opfer des Neoliberalismus werden von dieser Bewegung aber noch nicht erfasst?
Nicht direkt, nein. Ich glaube, jene Leute werden mobilisiert auf dem Umweg über die andern. Historisch ist das vielleicht ganz ähnlich wie bei den grossen religiösen Bewegungen. Diese wurden zwar von verarmten Bauern gemacht, aber die Bauern wurden angeführt von abgesprungenen Ordenspriestern. So ähnlich könnte die soziale Struktur der neuen Bewegung sein: die Kombination einer proletarisierten Intelligenz – kultiviert, kritisch, enttäuscht, politisch gebildet – zusammen mit den Opfern der Geschichte. Auch eine Arbeitslosenbewegung besteht ja heute nicht einfach aus Arbeitslosen; sie würde gar nicht vorwärtskommen mit Arbeitslosen allein. Es braucht andere Leute, welche die Interessen der Arbeitslosen aufnehmen, sich ihrer annehmen, sie organisieren und mobilisieren. Natürlich besteht ein Arbeitslosenmarsch aus Arbeitslosen, aber die Anführer solcher Bewegungen, die « Leader » sind typischerweise Intellektuelle von der Art, wie ich sie vorhin beschrieben habe: Sehr kultiviert, sehr intelligent – Leute, die man als akademisches Proletariat betrachten kann. Der Begriff « intelligentsia prolétaroide » passt hier sehr gut. Zu anderen Zeiten waren solche Leute in anderen Bewegungen, zum Beispiel in der Kommunistischen Partei. Der Konkurs der kommunistischen Bewegung hat hier auch politische Energien freigesetzt, die vorher eingefroren und erstarrt waren.

Auch der Begriff « États Généraux » in Ihrem Appell richtet sich – mit seinem Verweis auf die Französische Revolution – ja eher an gebildete Leute. Er ist übrigens viel schöner als das Wort « Tagung » in der deutschen Übersetzung.
Klar, der Begriff hat etwas Mystisches, etwas von revolutionärer Mystik. Wir überlegten uns auch andere Begriffe – « Constituante » oder « Convention » –, ebenfalls revolutionäre Metaphern, um bei den Leuten Vertrauen zu wecken. – Die herrschenden Kräfte bedienen sich ständig solcher Symbole, und zwar sehr geschickt. Sie haben auch das Geld dafür, im Gegensatz zu uns. Wir haben im Moment überhaupt kein Geld. Man kann sich gar nicht vorstellen, auf welche Schwierigkeiten man stösst, wenn man kein Geld hat. Ich habe hier zwei junge Männer, die mit mir intensiv für die Charta arbeiten – neben ihrer Forschungstätigkeit. Gestern abend habe ich bis ein Uhr morgens gearbeitet, Mails überall hin geschickt. Jeder gibt einen Teil seiner Zeit und seiner Energie. Hätten wir nur ein Hundertstel von dem Budget, über das manche Stiftungen verfügen, wäre es viel einfacher. Franz Schultheis, der in Neuchâtel Professor ist, koordiniert in Deutschland alles und leistet fantastische Arbeit. Wir müssen enorm viel Energie aufwenden, um Glaubwürdigkeit hervorzurufen – bei denjenigen, die mit uns arbeiten, aber auch bei denjenigen, die wir erreichen wollen. In Griechenland hat ein einziger junger Mann bereits dreihundert Unterschriften für den Appell gesammelt und die Mittel organisiert, um drei- bis vierhundert Personen für die geplante Tagung in Athen zu empfangen. « Les Etats Généraux », die müssen wir erst erfinden; ich hoffe, dass in Athen Texte zur Diskussion gestellt werden, dass kollektive Arbeiten entstehen. Und nachher müssen wir um dieses Ereignis eine Art Mythologie schaffen. Man muss wissen, dass in Athen etwas passiert ist. Dabei wird die Rolle der Journalisten zentral sein. Wenn die Journalisten nur schreiben, das sei wieder so eine Spinnerei von Bourdieu, dann wird uns das schaden.

In Ihren Buch « La misère du monde » haben Sie gezeigt, dass die Opfer des Neoliberalismus sehr verschiedene Menschen sind und dass sie sehr unterschiedliche Interessen verfolgen. Jetzt wollen Sie eine Bewegung ins Leben rufen, die sich auf universelle Werte beruft: Im Widerstand gegen den Neoliberalismus. Wie bringen Sie das zusammen?
Das ist der grosse Widerspruch. Doch wir sind gezwungen, diesen Widerspruch zu lösen. Wenn wir nichts machen, werden die Rechtsextremen an Zulauf gewinnen. Ich habe das in einem Text im Zusammenhang mit Haider in Österreich geschrieben: Die Abwesenheit einer Bewegung, die dem Leben einen Sinn gibt, begünstigt den Aufstieg von faschistoiden Bewegungen. Meiner Meinung nach gehört es zu den Funktionen dieser sozialen Bewegung, Le Pen und seine Anhänger zu bekämpfen – es ist nicht ihre Hauptfunktion, aber es ist eine sehr wichtige Nebenfunktion. 1995, als es in Frankreich zur grossen Streikbewegung kam, war plötzlich keine Rede mehr von Le Pen. Auch Leute, die anfällig gewesen wären auf rassistisches Gedankengut, schlossen sich dieser Streikbewegung an. Es ist wahr, dass die Folgen des Neoliberalismus dramatisch sind: Er atomisiert die Leute, er bringt sie auseinander, er zerstört die Gruppen, die Kollektive, die kollektiven Verteidigungstrukturen und lässt die Leute isoliert zurück, mit antagonistischen Interessen, mit gegensätzlichen Hoffnungen. All das begünstigt die Entwicklung faschistoider Bewegungen. Mittellose, verzweifelte Leute sprechen auf Populismus an. Eine der Funktionen einer neuen Bewegung ist es nun, diesen Leuten zu sagen, dass all dies kein Zufall ist, dass es auch nicht die Schuld der Ausländer ist, sondern das Produkt einer Wirtschaftspolitik – einer Politik, die auch anders sein könnte. Gerade am Beispiel der politischen Haltung gegenüber den Immigranten sehen wir ja die Scheinheiligkeit der französischen Sozialisten: Ihre Politik gegenüber den illegal Eingereisten war äusserst hart, und auf die Demonstrationen in den Vororten antworteten sie mit schärfster Repression. Heute führen sie überall in den Schulen strenge ausländerpolizeiliche Kontrollen durch, aber für die Integration der Leute haben sie überhaupt nichts getan. Vor zehn Jahren kritisierte ich Mitterands Scheinheiligkeit, als er den Immigranten sagte: « Ihr seid hier bei Euch zu Hause! » Zu Hause? Ohne Identitätskarte, ohne nichts?

Liegt der Ursprung Ihres politisches Engagements in Ihrer Arbeit als Forscher für « La misère du monde » oder forschten Sie umgekehrt gerade aus diesem politischen Engagement heraus?
Beides. Als ich die Arbeit begann, wollte ich einerseits eine neue Erhebungsmethode testen, andererseits hatte ich auch politische Absichten: Die Sozialisten waren schon vier, fünf Jahren an der Macht, Wahlen standen an, und ich wollte davor eine Art Bilanz der sozialistischen Aktion ziehen – eine reelle Bilanz. Sicher hat die Arbeit dann bei mir das Gefühl von Dringlichkeit intensiviert. Nachdem ich diese Dinge gesehen hatte – und ich habe viel mehr gesehen, als im Buch steht – wurde es für mich unmöglich, mich nicht einzumischen.

Arbeiten Sie zur Zeit wieder an einem so grossen wissenschaftlichen Projekt wie « La misère du monde »?
Nein, nicht wirklich. Es gibt und gab aber ähnliche Projekte in anderen Ländern. In der Schweiz hat eine Frau, Claudia Honnegger, ein analoges Projekt durchgeführt. In Griechenland und in Deutschland wird ebenfalls an solchen Forschungen gearbeitet. Sie kopieren mich natürlich nicht, doch meine Arbeit hat Projekte des gleichen Typus ausgelöst. In Deutschland war die Übersetzung meines Buches ein grosser Erfolg – sie hat viele Soziologen dazu angeregt, mehr mit verstehenden Interviews und mündlichen Zeugnissen zu arbeiten.

Was für Konsequenzen hatte der Erfolg des Buches in Frankreich?
Das ist schwierig zu sagen. Ich denke, es hatte sicher einen grossen Einfluss. Alle Politiker haben es gelesen, Leute aus der Rechten, sogar Jacques Chirac hat mir geschrieben, es war erstaunlich. Viele Politiker waren betroffen, weil kein anständiger Mann dieses Buch lesen kann, ohne davon betroffen zu sein. Ich bekam auch viele Reaktionen von Intellektuellen, von Schriftstellern. Doch leider glaube ich nicht, dass es wirklich politische Konsequenzen nach sich gezogen hat.

Und wie hat sich « La misère du monde » auf diejenigen ausgewirkt, die darin ihre Geschichte erzählen? Haben sich für diese Menschen neue Perspektiven geöffnet?
Es kommt drauf an. Oft war schon allein die Tatsache, reden zu können, wichtig für sie. Viele haben das übrigens im Buch gesagt. Doch man müsste noch weitergehen. Ich habe da eine Utopie: eine Art Weltgesellschaft für Sozioanalyse zu gründen, wie es sie für die Psychoanalyse gibt. Ich habe im Laufe meiner Arbeit zunehmend festgestellt, dass viele persönliche Dramen, wegen denen die Leute Psychoanalytiker aufsuchen, von Soziologen wenigstens zum Teil behandelt werden könnten. Es gibt so viele arbeitslose Soziologen, die könnten wir ausbilden, damit sie dann in den Spitälern, in den Gefängnissen, in den Schulen, in vielen Institutionen und Kollektiven, den Leuten helfen, ihre persönlichen Probleme anzugehen. Ich denke zum Beispiel an die zahlreichen Eltern, die Probleme mit ihren Kindern haben, weil sie in der Schule scheitern. Ich sage nicht, dass die Soziologen alles lösen könnten, aber sie könnten vieles erhellen. Zum Beispiel habe ich eine Freundin, die als Psychoanalytikerin der Schule Melanie Kleins mit Kindern arbeitet. Ich fragte sie einmal, wie sie mit diesen Kindern bloss Tests machen könne, ohne sie nach dem Beruf ihres Vaters zu fragen, das sei doch nicht seriös. Ich habe selbst in meiner Jugend Rorschach-Tests durchgeführt: Diese können einiges aufzeigen, doch vieles wird erst klar, wenn man weiss, wessen Tochter oder Sohn jemand ist. Meine Freundin fing an, solche Dinge einzubeziehen. Sie hatte zum Beispiel den Fall eines Jungen, der sich ständig Verletzungen zuführte. Dann entdeckte sie, dass der Vater dieses Bubs ein erfolgreicher Polytechniker war, der seinem Sohn ständig zu verstehen gab, dass er nichts wert war. Der Vater war Polytechniker – nicht Strassenwischer oder Arbeitsloser. Das ist wichtig, wird aber in der Psychoanalyse praktisch ausgeklammert. Die Psychologie und die Psychoanalyse stehen in einer individualistischen Tradition, und wir wollen hier die gesellschaftliche Komponente einführen. – Sie haben mich vorhin gefragt, was die Rolle der Intellektuellen in einer sozialen Bewegung sein könnte: Ich meine, es könnte die Sozioanalyse sein. Die sozialen Bewegungen werden ja von Menschen gemacht, die alle ihre sozialen Bestrebungen, ihre Ressentiments und ihre Ängste haben. Viele Unglücke der Geschichte können so betrachtet werden: Stalin, ein abgesprungener Pfarrer aus der Provinz, war neidisch auf den international ausgerichteten Lenin, der in der Schweiz studiert hatte. Das erklärt doch manches.

Kommen wir auf die Rolle der Gewerkschaften zurück. Sie haben geschrieben: « Der europäische Syndikalismus muss erst erfunden werden. »
Oft wird uns in Zusammenhang mit diesem Projekt vorgeworfen, dass es das alles schon gibt: Es gibt ein europäisches Parlament, es gibt eine europäische Föderation der Gewerkschaften. Ich sage aber: Nichts ist schon gemacht! Scheinbar gibt es in Europa alles, aber in Wirklichkeit gibt es gar nichts. Die europäische Gewerkschaftsföderation ist eine reine Lobby; es gibt keine wirkliche europäische Gewerkschaftsbewegung. Die Frage ist: Wie könnte sich eine solche bilden? Wäre sie eine Föderation der bereits bestehenden Gewerkschaften? Das würde eine Menge Verhandlungen voraussetzen. Aber vielleicht könnte sie auch auf Druck einer Bewegung von Minderheitsgruppen entstehen, die auf europäischer Ebene Kämpfe führen, welche von den Gewerkschaften selber vernachlässigt werden. Wenn wir einen europäischen Syndikalismus wollen, müssen wir Druck aufbauen, um die Gewerkschaften zu einer Veränderung zu zwingen. Dazu brauchen wir Verbündete in den Gewerkschaften selber. Zum Beispiel gibt es in der deutschen IG Metall sehr einflussreiche Leute, die mit uns sind – in der IG Medien ebenfalls, was kein Zufall ist, weil sich dort die Intellektuellen befinden. Sehr wichtig sind auch die Gewerkschaften der kleinen Länder. Die Griechen spielen eine zentrale Rolle, weil sie ein kleines Land vertreten und sich vielleicht mit den Portugiesen zusammenschliessen könnten. Auch die Dänen sind wichtig, und die Schweiz könnte eine interessante Rolle spielen. Man muss den sozialen Kräften helfen...

Es wird also eher eine Mobilisierung der Köpfe der Gewerkschaften sein, eine Mobilisierung von oben?
Es gibt auch den Fall, dass die Basis mitmacht und der Kopf nicht folgt. Die Basis bewegt sich, und der Kopf verteidigt die Interessen des Apparats. Ganze Gewerkschaftsapparate hängen von der Existenz der europäischen Strukturen ab. All diese Apparatschniks beherrschen die Fremdsprachen, sie sind gebildet – und sie sind von der Basis abgeschnitten. Das sind Dinge, die alle wissen, aber niemand getraut sich, es offen auszusprechen. Überhaupt sind die sozialen Bewegungen sehr heterogen, mit riesigen internen Widersprüchen, die nicht analysiert werden. Hier könnte man die Sozioanalyse, von der ich vorhin sprach, sehr gut anwenden. Jemandem, der in einer gewissen Position nicht weiter kommt, könnte man erklären, dass dies mit seiner sozialen Position zu tun hat, vielleicht auch mit der Tatsache, dass er im Studium gescheitert ist.

Was wird für Sie die nächste Etappe sein, nachdem sie am 1. Mai die Charta lanciert haben?
Die nächste Etappe werden transnationale Arbeitstreffen sein, in Belgien, in Österreich, in anderen Ländern, um spezifische Punkte der Charta weiter zu entwickeln und um das grosse Treffen nächstes Jahr in Athen vorzubereiten. Dort sollen dann die Arbeiten der verschiedenen Gruppen diskutiert werden. Natürlich sind auch Publikationen geplant. Wir haben unsere Bücherreihe « Raisons d'agir »: Die Texte liegen ganz frisch in deutscher Übersetzung* vor, jetzt sollen sie auch in Englisch erscheinen. Das alles soll zu einem Netzwerk heranwachsen – zu einer Art von gemeinsamem intellektuellem Instrument. Es sind aber auch Interventionen und Stellungnahmen zu bestimmten Problemen vorgesehen: Zum Beispiel findet im Herbst in Nizza ein Treffen statt, wenn Frankreich die Präsidentschaft Europas übernimmt. Voraussichtlich werden wir uns dort einmischen.

   


Pierre Bourdieu


   


 

   
maison   société   textes   images   musiques