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lernte Pierre Bourdieu 1975 oder 76 kennen: Er hatte mich nach
Paris eingeladen, an die "Maison des Sciences de l'Homme",
wo sein Forschungszentrum untergebracht war. Zuvor hatte ich für
Syndikat seinen fulminanten und in der einschlägigen politischen
Literatur zu Heidegger noch immer unübertroffenen Artikel "Zur
politischen Ontologie Martin Heideggers" übersetzt. Nun sollte
sein Werk Esquisse d'une théorie de la pratique übersetzt
werden. Aber er hatte, wie immer, Änderungen vorgenommen und
den gesamten Aufbau des Buches umgekrempelt: dafür wünschte
er mich in Paris.
Ich erwartete einen französischen "Meisterdenker": brillant
und arrogant. Zunächst bestach mich seine Offenheit, seine Neugierde,
deutsche Theorie betreffend.
Pierre Bourdieu war Soziologe, oder besser: wurde Soziologe - nicht
aus Bildungshunger, denn zu seiner Studienzeit war Soziologie noch
nicht mit der Aura der späteren 60er und 70er Jahre umgeben,
sondern wohl als Überlebensprogramm. Keiner hat wie er in immer
wieder neuen Anläufen das soziale Geheimnis der Individuierung
zu enträtseln versucht: Wie wurde ich durch die sozialen
Bedingungen, was ich geworden bin.
Keiner hat so minuziös und zugleich auch so verbissen wie er
(gespeist aus eigener gesellschaftlicher Erfahrung) die unbewussten
und bewussten Strategien nachgezeichnet, mit denen Individuen wie
Gruppen zu sozialen Akteuren, oder aber zu Verlierern gesellschaftlicher
Prozesse werden.
Der
Unzeitgemässe.
Achim
Russer und Bernd Schwibs, Freitag, "Die Ost-West-Wochenzeitung
(Berlin)", Nr. 6/2002 (1.2.2002).
Achim
Russer lebt in Paris und arbeitet dort am Goethe-Institut. Bernd Schwibs
ist leitender Redakteur der Zeitschrift Psyche. Beide haben - auch
gemeinsam - Schriften von Bourdieu ins Deutsche übersetzt,
unter anderem Die feinen Unterschiede, Regeln der Kunst.
FREMDER
BLICK - Im französischen Elite-System war Pierre Bourdieu
ein Außenseiter, der auf dieser Perspektive beharrte.
aum
eine französische Tageszeitung, die am 25. Januar nicht mit einem
Foto Pierre Bourdieus auf der ersten Seite erschienen wäre. Sondersendungen
in Rundfunk und Fernsehen, Betroffenheitserklärungen der obersten
Vertreter von Staat, Parteien und Verbänden, Respektbezeugungen
aus aller Welt - für einen Medien-Augenblick schien
es fast, als habe ein neuer Victor Hugo (dessen hundertstes Todesjahr
Frankreich begeht) ein Volk von Trauernden hinterlassen. Nur das Echo
aus dem Kollegenkreis war eher verhalten.
Zu so viel öffentlichem Ruhm war Pierre Bourdieu durchaus nicht
prädestiniert. Mit Fleiß und Intelligenz hatte der Sohn
eines kleinen Beamten aus einer der ärmsten und abgelegensten
Gegenden Frankreichs es zum Absolventen der besten Schulen und Hochschulen
Frankreichs gebracht. Statt dem meritokratischen französischen
Bildungssystem dafür Dank zu erweisen, demontierte er seine Gleichheitsfassade
und wies nach, dass seine scheinbare Egalität den französischen
Eliten in erster Linie dazu dient, sich selbst zu reproduzieren (Grundlagen
einer Theorie der symbolischen Gewalt; Die Illusion der Chancengleichheit).
Während seine Schriften zu Basistexten der französischen
Studentenbewegung avancierten, brachte ihr Verfasser für deren
Illusionen nur Spott auf. Den Rückzug auf die Ästhetik zum
Widerstand gegen gesellschaftliche Zwänge zu verklären,
wie es die späte Kritische Theorie und zumal Adorno unternahm,
war ihm ebenso fremd: In den siebziger Jahren widmet Bourdieu
eine seiner umfangreichsten Arbeiten dem Nachweis, dass die leiblichen
ganz ebenso wie die geistigten Geschmacksnuancen von der Prägung
durch Herkunft und soziale Laufbahn aufs genaueste vorgegeben werden
(Die feinen Unterschiede).
Massiver hätte Bourdieu die französischen Intellektuellen
- eine Klasse, die sich geradezu dadurch definieren ließe,
dass jeder einzelne von ihnen sich für absolut originell hält - gar
nicht herausfordern können. Seit er ihrem Anspruch auf die Einzigartigkeit
der persönlichen Geschmacksentscheidung den Boden entzog, ist
der Vorwurf des "Reduktionismus" aus der französischen Debatte
über sein Denken nicht mehr verschwunden. Eine Reaktion, die
aufs schönste bestätigt, mit welch eingefleischten Überzeugungen
Bourdieus von ihm selbst so genannte "Sozio-Analyse" es zu tun hat: Die
provozierten Widerstände zeugen von der Triftigkeit des Zugriffs.
Damit nicht genug. Mit den eigenen Fachkollegen verdarb Bourdieu es
sich durch eine schonungslose Analyse des Funktionierens der Grandes
Ecoles, dieser Kaderschulen der französischen Eliten, und des
akademischen Feldes überhaupt (Homo academicus; Noblesse
d´Etat), in dem er sich gegen enorme innere und äußere
Widerstände durchzusetzen gelernt hatte und in dem er doch nie
ganz heimisch werden konnte oder wollte. Der "fremde Blick", dessen
Bourdieu sich in seinen ethnologischen Schriften bedient, um die einheimischen
Praktiken durch strukturalistische Methodik zu verfremden; aber
auch den Strukturalismus durch Bezug auf diese Praktiken zu unterminieren:
in Homo academicus wird er instrumentalisiert zum Medium der Selbstreflexion
eines Milieus, das (wie alle anderen) eigentlich lieber nicht so genau
wissen wollte, nach welchen Regeln es funktioniert.
Gerade aus solcher Respektlosigkeit gegenüber dem in Ehren Etablierten
bezieht Bourdieus Soziologie paradoxerweise ihre Stärke. Da jeder
Widerspruch gegen sie ohne weiteres als interessegeleitetes Diversionsmanöver
zu entlarven ist, erringt sie den Status einer nahezu unanfechtbaren
kritischen Instanz, von der sich zumal junge Forscher unwiderstehlich
angezogen fühlen. Als Bourdieu an das prestigereiche Collège
de France berufen und von der Regierung mit der Ausarbeitung von Vorschlägen
zur Reform des französischen Bildungswesens beauftragt wird (die
in den staatlichen Agenturen versickern werden), ist der Erfolg der
waghalsigen akademischen Überholungsstrategie des brillanten
Außenseiters auch nach außen unübersehbar geworden.
Als jedoch das, was von Frankreichs kritischer Intelligenz übrig
geblieben war, durch Mitterrands Präsidentschaft mit dem Staat
versöhnt, sich aus der Politik verabschiedet hat und die golden
boys zum gesellschaftlichen Leitbild avancieren, macht der große
Unzeitgemäße sich an die Untersuchung des Elends der Welt
und stellt sein Ansehen und seine publizistischen Möglichkeiten
in den Dienst von Obdach- und Arbeitsloseninitiativen, Streik- und
Schwulenbewegungen. Immer ungeschützter setzt der zeitlebens
von Schüchternheit Geplagte sich bei solchen Auftritten dem Zugriff
einer medial vermittelten Öffentlichkeit aus, deren Mechanismen
der Einverleibung und Entfremdung des Produzenten er so aggressiv
und triftig wie wenige analysiert und angeprangert hatte (Über
das Fernsehen). Hatte nicht gerade er in mehrfachen Anläufen
an Jean-Paul Sartre die Gestalt jenes illusionären Intellektuellen
exemplifiziert, der in Verkennung der sozialen Bedingungen seiner
Möglichkeit sich selbst zum totalen Intellektuellen aufwirft?
Nun, auf ein Missverständnis mehr oder weniger kam es ihm wohl
nicht mehr an. In den Meditationen, einem seiner letzten und persönlichsten
Werke, steht im Zentrum der Kritik das Denken selbst, die privilegierte
Absonderung, ohne die es nicht möglich wäre und durch die
es doch unvermeidlicherweise verkürzt und verdorben wird. In
diesen unter dem Vorzeichen Pascals erscheinenden Überlegungen
(der französische Titel lautet Méditations Pascaliennes)
wirkt alle theoretische Arbeit wie von einer Art Erbsünde geschlagen.
Von ihrem "scholastischen" Anteil vermag sie nicht einmal die Selbstreflexion
loszusprechen - gebunden, wie sie es nun einmal ist, an die Trennung
von Hand und Kopf, von Arbeit und Herrschaft.
Doch diese Einsicht in die Begrenzungen und Begrenztheiten des Denkens: Bourdieu
hat sie nicht zynisch oder tragisch zur Abdankung des Denkens stilisiert.
Sein hoher Anspruch an sein, an Denken schlechthin blieb ungebrochen.
Von Anbeginn war er - und man selbst mit ihm - in der
Sphäre des Objektiven; noch die keineswegs seltenen Aussagen
zu persönlichen Gewohnheiten und Vorlieben, Freunden und Feinden
klangen wie Einlassungen des absoluten Geistes, wie Modalitäten
soziologischer Gesetzmäßigkeiten. Pierre Bourdieu war ein
Mann des kategorischen Urteils: Dialog als sich herantastende
Annäherung an eine Wahrheit war seine Sache nicht.
Tatsächlich aber faszinierte Pierre Bourdieu im persönlichen
Gespräch zunächst durch seine Präsenz, seine Zuwendung,
seine Offenheit und zupackende Art, sein schelmisches Lächeln,
das sich in den Falten um die Augen niedergeschlagen hatte. Gewiss,
sie waren in den letzten Jahren etwas tiefer geworden, die Haare ein
wenig schütterer; doch in den Augen war noch immer der Glanz
und der durchdringende Blick - nur hin und wieder von einem Schatten
umwölkt, der eine gewisse Müdigkeit zu signalisieren schien,
vielleicht auch Trauer. Aber Auskunft geben über subjektive Befindlichkeiten: das
war Pierre Bourdieus Sache nicht.
Er wird uns fehlen.
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