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dem Tod von Pierre Bourdieu am Mittwochabend hat die französische
Gesellschaft einen engagierten Streiter für die Rechte der Benachteiligten
und der Unterdrückten verloren, der an der Seite von streikenden
Eisenbahnern gegen die Globalisierung protestierte, der die Folgen
der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der Weltbank-Weltmarktordnung
in düsteren Farben malte. Die Intellektuellen weltweit verlieren
einen Denker, für den kein Ersatz in Sicht ist. Denn Bourdieu
verband auf besondere Weise Wissenschaft mit gesellschaftskritischer
und medienkritischer Reflexion.
Geboren am 1. August 1930 in den Pyrenäen, studierte er
Philosophie in Paris und lehrte zuerst ab 1958 in Algier, im damals
noch französischen Algerien. Seine steile Karriere führte
ihn zuletzt auf den Soziologie-Lehrstuhl des Collège de France.
Bourdieu unterrichtete auch in den USA und nahm gelegentlich an politisch-philosophischen
Debatten in Deutschland teil. Sein Werk umfasst über zwanzig
Bücher; er war Herausgeber von Zeitschriften und Buchreihen; als
Forschungsdirektor hat er mit zahlreichen Projekten die Soziologie
als empirisch-kritische Wissenschaft stark gemacht.
Teilnehmende
Objektivierung
Von Bourdieu stammen Studien zu fast allen Bereichen des postkolonialen
bürgerlichen Lebens. Er hat sich als Soziologe um die "Ethnologie
der eigenen Kultur" bemüht und blieb trotz allen Engagements
bis zum Schluss der Professor, der "Homo academicus" (ein Buchtitel
von 1984) ein akademisch einflussreicher Gelehrter. Seine Gesellschaftskritik
nährte sich aus der Idee "teilnehmender Objektivierung" und schloss
die soziologische Einsicht mit dem Protest gegen undurchschaubare
Verhältnisse im Lehrbetrieb oder in der Medienwelt kurz. Bourdieu
verband wissenschaftlichen Anspruch mit politischem Einspruch. Er
gründete neue Foren, etwa die Buchreihe "Raisons d’agir", die
ab 1996 auf Anhieb erfolgreich war. Hier schrieb er oder ließ
Gleichgesinnte über das schreiben, was den Rahmen akademischer
Bücher sprengte und was auch nicht in Bourdieus renommierte Zeitschrift
"Actes de La recherche en sciences sociales" hineinpasste.
Bourdieu war Wissenschaftler, er vertraute auf die Kraft der Vernunft,
auf methodisch erarbeitete Einsicht. Ähnlich wie die philosophischen
Zeitgenossen seiner Generation - etwa der bereits 1984 gestorbene
Michel Foucault oder Jacques Derrida - operierte Bourdieu
im klassischen Sinn der Aufklärung kritisch: durch Analyse
und Überlegung, zusätzlich gestützt auf Empirie. Anders
als Sartre, der in Literatur und Kunst sein politisches Publikum suchte,
steht Bourdieu für diejenige Richtung der Intellektuellen, die
durch "Gegenwissen" mobilisieren wollen, durch Reflexion verändern.
Und hier setzt seine Würdigung der ambivalenten Rolle des Fernsehens
an: "Die Besonderheit der neuen Kampfformen besteht darin,
dass sie einiges an Auftrieb durch die Öffentlichkeit erhalten,
die ihnen, manchmal wider Willen, von den Medien verschafft wird: Die
Anzahl der Demonstranten ist weniger wichtig als das durch eine Demonstration
oder eine Aktion, etwa einen gut platzierten Zeitungsartikel, ausgelöste
Echo in den Medien und der Politik." Um dieses Echo ging es Bourdieu.
Soziologische Studien sind meist empirisch, das Material des Soziologen
jedoch sind gesellschaftlich konstruierte Größen, nicht
einfache Verhältnisse. So bezog sich die Forschung von Bourdieu
auf den "Habitus", auf das anspruchsgesättigte Verhalten der
Menschen untereinander, wobei Bourdieu ein bemerkenswertes Gespür
für die "feinen Unterschiede" (so ein Buchtitel von 1979) hatte - Unterschiede,
die erst gesetzt werden, nicht schon vorhanden sind.
Die funktionierenden Distinktionsmerkmale der Gesellschaft, sei es
ästhetischer Geschmack, Kunstverständnis, Bildung oder wissenschaftliche
Autorität, lassen sich allesamt auf die Anstrengung zurückführen,
bestimmte Werte und Kriterien durchzusetzen. Bourdieu hat diese Unterschiede
auf vielen Feldern untersucht, auf dem "literarischen Feld", dem Kunst - und
Ausstellungswesen und insbesondere auf dem Feld der wissenschaftlichen
Arbeit. Denn Bourdieu war geradezu besessen von dem Verlangen, seine
eigenen Bedingungen zu thematisieren und sich selbst als Soziologe
gegenübertreten zu können. So hat er in einer frühen
Studie die Bildungswege von französischen Elitestudenten untersucht
(zu denen er selbst einmal gehörte) und aufgedeckt, wie stark
die Wahl bestimmter Themen und die Interessen für bestimmte Wissensgebiete
von sozialen Bedingungen abhängen. Das ist noch das Thema seiner
"Meditationen", die erst kürzlich auf Deutsch erschienen.
Tragödie
der Kultur
Das Wort sozial wird bei Bourdieu zu einem Begriff, der insbesondere
Werturteile und bewusst gelebte Vorurteile einschließt. Bourdieu
versuchte, dieses Geflecht des gesellschaftlichen Zusammenlebens durchsichtig
zu machen und er ärgerte sich am stärksten über die
Autoritätsanmaßung der Gebildeten, wie man am deutlichsten
seinem soziologischen Versuch über Heideggers Sprache entnehmen
kann, das ein einziges Plädoyer für Klarheit und Aufrichtigkeit
ist. Freilich hat Bourdieu mit seiner radikalen Kritik an allem neo-intellektuellen
Obskurantismus nie ein rechtes Verständnis dafür entwickeln
können, warum sich in der Gesellschaft Bereiche gegeneinander
isolieren, warum der Wille, sich auszuzeichnen, auch in Wissenschaft
und Kunst ein starker Motor aller Aktivitäten ist (Georg Simmel
nannte das vor über hundert Jahren schon die "Tragödie der
Kultur").
Das "symbolische Kapital", das Bourdieu zum Arbeitsbegriff vieler
seiner Untersuchungen erhob, definiert sich durch schwankende Kriterien
im Spiel der Kräfte. Bourdieu setzte sein eigenes intellektuelles
Kapital, seinen Ruf als Wissenschaftler, oft genug auf der intellektuellen
Meinungsbörse ein. "Gegen die Politik der Entpolitisierung",
wetterte er im letzten April in einem international verbreiteten Aufruf,
"gilt es, politischem Denken und Handeln wieder ihren rechtmäßigen
Platz einzuräumen und für dieses Handeln einen geeigneten
Ansatzpunkt zu finden." Wohl wahr: aber doch nur eine Problembestimmung.
Das Bild des zornigen alten Mannes, der sich über das "Elend
der Welt" (ein Buchtitel von 1993) empörte, auch über die
Situation der Obdachlosen in Frankreich, hat jedoch nie den verzweifelten
Ton überspielt, der die Entwicklung der Globalisierung in Worten
beklagt, für die sich Taten kaum noch benennen lassen. Denn was
zur Änderung der Verhältnisse führen könnte, war
für Bourdieu nicht weniger fraglich als für uns, die wir
bis eben noch seine Zeitgenossen waren.
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