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Pierre Bourdieu verliert die Soziologie einen ihrer Großen,
einen, der bereits zu Lebzeiten als Klassiker galt und der wie kaum
ein anderer das Métier des Soziologen ernst nahm, kultivierte
und liebte. Vor allem in den letzten Jahren hat er dieses Handwerk
auch offensiv und eher unklassisch in seiner konsequenten Kritik des
gesellschaftsfreien Modelldenkens der neoklassischen Ökonomie
eingesetzt. Eine Schrift aus dem Jahr 1998 nannte er: Gegenfeuer.
Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale
Invasion. Aber nicht nur im Feld der Ökonomie ging es ihm
um soziologische Aufklärung, deren Leitmotiv darin bestand, die
Entstehungs- und Reproduktionsbedingungen sozialer Ungleichheit in
modernen Gesellschaften aufzudecken. Sein kultursoziologischer Ansatz
trägt wesentlich zum Verständnis dieses Zusammenhangs auch
in anderen sozialen Feldern bei: vom Bildungssystem über
Literatur, Kunst und Mode bis hin zu Wissenschaft und Politik. Wir
verlieren weniger den Klassiker, als vielmehr den Lehrer und den streitbaren
Kämpfer für eine neue soziale Bewegung.
Sighard
Neckel.
Frankfurter
Rundschau, 25.01.2002.
Sighard
Neckel lehrt Allgemeine Soziologie an der Justus-Liebig-Universität
Gießen.
In
seiner Theorie der sozialen Praxis kam Pierre Bourdieu immer wieder
auf das Phänomen zurück, dass uns der gewöhnliche Lauf
der Dinge wie die Logik objektiver Gegebenheiten erscheint. Den Effekten
dieser méconnaissance im Weltbild unseres alltäglichen
Seins hat er den Großteil seiner wissenschaftlichen Arbeiten
gewidmet. Eine "Verkennung" im Sinne der soziologischen Aufklärung,
wie Pierre Bourdieu sie betrieb, wäre es, im Kreis jener, die
seine Untersuchungen, Artikel und Bücher stets mit größter
Anspannung verfolgten, allein dem Werk zu gedenken, das Pierre Bourdieu
überdauern wird. Mit Pierre Bourdieu ist ein Intellektueller
gestorben, der uns die kritische Zeitgenossenschaft wie kaum ein anderer
verkörpern konnte. Dabei gewann er die Kraft zum Engagement erst
dadurch, dass er, der um die Abgründe der Rede wusste, sich das
öffentliche Sprechen buchstäblich unendlich schwer gemacht
hat. Gerade deshalb haben wir so genau zugehört. Die Texte bleiben,
die Stimme fehlt.
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