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Dank
seines Blicks für feine Unterschiede wurde alles anders : Zum
Tod des französischen Soziologen Pierre Bourdieu.
o
lange ist es noch gar nicht her. Eine ältere Generation der Kulturkritik
hatte uns längst daran gewöhnt, die Vielfalt unseres Konsumverhaltens,
unserer Geschmäcker und Lebensstile immer nur wieder als großen
Irrtum zu durchschauen. Die kulturelle Vielfalt sei vielmehr eine
Schimäre, ein einziger Verblendungszusammenhang, bloßer
Schein; in Wahrheit hätten Konsum- und Bewusstseinsgüterindustrie
jedwede Besonderheit sich unterworfen und wäre die Warenform
längst zum alles durchherrschenden Prinzip geworden. An Alternativen
war also nicht mehr zu denken, zu unerbittlich und umfassend war das
Unheil über uns hereingebrochen: Eine überaus listige
Dialektik hatte die einstmals hoffnungsvolle Egalité
der Aufklärung zur industrienormierten Gleichmacherei verbogen.
Als der französische Soziologe Pierre Bourdieu sein Buch Die
feinen Unterschiede vorlegte, war auf einmal alles anders. 1979
in Frankreich und 1984 in deutscher Sprache erschienen, breitete seine
"Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft" - so lautet
der Untertitel in vager Anlehnung an Immanuel Kant - einem
staunenden und zugleich erschrockenen Publikum den ungeheuren Reichtum
seiner Alltagswirklichkeit aus. Bourdieus gut 900 Seiten schwere Untersuchung
verlor sich dabei nicht so sehr in erkenntnistheoretischen oder geschichtsphilosophischen
Spekulationen, sondern überzeugte durch ihren Materialreichtum.
Dabei war dem Soziologen nichts Menschliches fremd; kurzerhand
unterlief er die gebräuchliche Unterscheidung zwischen höherer
und niederer Kultur, ihn interessierte schlicht alles.
Man durfte sich also ertappt fühlen. Bourdieus Domäne waren
die Lebensstile. Freizeitgestaltung, Essverhalten, Schönheitsideale,
Kino, Theater - oder Galeriebesuche, akademische und andere
Titel, Wohnungseinrichtungen und Urlaubsorte - in all dem
entdeckte Bourdieu ein dichtes Gewirr verschiedener Strategien, mit
deren Hilfe sich die gesellschaftlichen Akteure um Distinktionsgewinne
mühen. Auf die Unterschiede kommt es eben an: Ein Kampf
um symbolisches Kapital, also um Anerkennung, Ruhm und Ehre, durchzieht
das soziale Feld; eine Konkurrenz, bei der jeder Teilnehmer,
mit anderen Worten: wir alle, auf eine für sich einträgliche
Weise zu agieren versucht. Dabei geht es mitunter kleinlich bis kleinkariert
zu. Auf dem Feld der Ehre und des Ruhms ist nichts wirklich peinlich.
Dies gilt insbesondere auch, so lautet eine der Kränkungen, die
Bourdieu für uns bereit hält, für altehrwürdige
Institutionen, etwa Universitäten oder den Literaturbetrieb.
Das hat er in minutiösen Studien zu Gustave Flaubert oder zum
französischen Erfolgs - und Meisterdenker Jean-Paul
Sartre eindringlich dargelegt. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang
auch Bourdieus bereits 1976 in deutscher Übersetzung erschienenes
Buch Die politische Ontologie Martin Heideggers (frz. 1975)
sowie seine wiederum breit angelegte Untersuchung über den Homo
Academicus, aus dem Jahre 1988 (frz. 1984). Sichtbar wird hier
ein intellektuelles Feld, das für sich genommen zwar weitgehend
autonom ist, innerhalb dessen aber die Akteure ganz disparate Strategien
verfolgen, eingespannt zwischen Orthodoxie und Heterodoxie.
Innerhalb eines sozialen Feldes - dieser Begriff ist entscheidend
für Bourdieu - findet eine Auseinandersetzung zwischen
den repräsentativen Institutionen, der vorherrschenden Lehre
oder Meinung, dem Etablierten und fraglos Hingenommenen auf der einen
Seite und dem Neuen und Abweichenden, gegebenenfalls sogar Subversiven
auf der anderen Seite statt. So hat etwa Martin Heideggers Kritik
am herrschenden Neukantianismus seiner Zeit und seine Parteinahme
für ein neues "ursprüngliches" Denken ihm erhebliche Distinktionsgewinne
eingebracht: Seine "Metaphysik des Provinziellen", sein Jargon
der Unmittelbarkeit versprach eine Überwindung der an Formstrenge
und Allgemeinheitspostulaten geradezu erstickenden Universitätsphilosophie - kleinbürgerliche
Aufstiegsfantasien, wie der Soziologe Bourdieu anmerkt.
In jeder Strategie spiegelt sich zugleich auch ein bestimmtes Milieu
wieder. Auch da, wo es um scheinbar unverrückbare oder unmittelbare
Wahrheiten geht. Dies verweist auf einen weiteren zentralen Begriff
bei Bourdieu: den Habitus. Er ist eine Art Vermittlungsinstanz
zwischen dem agierenden Individuum und der Kollektivität seines
Zeitalters, eines Systems unbewusster und verinnerlichter Verhaltensmuster.
Eine Strategie muss verkörpert, also habitualisiert sein, um
wirksam werden zu können, wie Bourdieu in seiner 1970 erschienenen
Soziologie der symbolischen Formen ausgeführt hat. Jedes
Handeln trägt insofern einen milieubedingten und damit auch einen
historischen Index. Es ist immer von dieser Welt - auch
wenn es sich durch einen ominösen Jenseitsbezug ermächtigt
glaubt.
Dazu passt auch, dass Bourdieu über sein umfängliches wissenschaftliches
Werk hinaus, es immer verstanden hat, seine Arbeit politisch einzusetzen.
So rief er bereits 1993 zu einer "Internationalen der Intellektuellen"
auf, einem Bündnis gegen den Neoliberalismus, gegen "Ökonomismus
und Flexibilisierung". Intellektuelle, so Bourdieu, sollten sich nicht
in ihren Institutionen verstecken, sondern ihre Kompetenz in die gesellschaftliche
Debatte einbringen. Seine Motive legte er in einem Interview dar:
"Menschenrechtsverletzungen, Fremdenfeindlichkeit, Nord-Süd-Gefälle
... die Ohnmacht der Wissenschaftler - die Liste kann fortgesetzt
werden. All das erschreckt mich so, dass ich etwas tun muss, selbst
wenn ich keine Illusionen habe."
Bourdieus Bücher erreichen mittlerweile Auflagen, von denen andere
nur träumen können. Sein 1997 erschienenes Das Elend
der Welt (frz. 1993), eine gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern
erarbeitete monumentale Sozialrecherche der französischen Unterschichten,
oder seine Gegenfeuer, eine fortgesetzte Sammlung von Einsprüchen
und Widerreden aus den 90er Jahren - nicht zuletzt auch
sein politisches Engagement hat den Franzosen zu einem der bekanntesten
Intellektuellen Europas gemacht. Zu seiner Strategie hat er einmal
gesagt: "Man muss es fertig bringen, Wissenschaft und Militanz
zu versöhnen, den Intellektuellen die Rolle von Militanten der
Vernunft wiederzugeben, die sie etwa im 18. Jahrhundert hatten." Eben
das beabsichtigte Bourdieu auch mit einer kleinen Buchreihe Raison
d'agir (Gründe zu handeln), die er gemeinsam mit Kollegen
seit 1996 herausgab.
Bourdieu ist immer wieder gegen die "Geißel" des Neoliberalismus,
gegen das gesamteuropäische "Tietmeyer-Denken" zur Felde gezogen.
Wo immer französische Arbeitslose, Einwanderer oder Gewerkschafter
ihren Protest artikulierten, konnten sie sich der Unterstützung
des Wissenschaftlers sicher sein. Daran änderte sich auch nach
dem Wahlsieg der Linkskoalition in Frankreich nichts - er
blieb ein "intellektueller Volkstribun".
Pierre Bourdieu wurde 1930 im südfranzösischen Denguin (Béarn)
geboren. Nach dem Studium der Philosophie an der Elitehochschule École
normale supérieure in Paris arbeitete er zunächst als
Lehrer, bevor er 1958 wissenschaftlicher Assistent an der philosophischen
Fakultät in Algier wurde. In dieser Zeit begann er mit einer
Reihe von Arbeiten über Algerien, in denen sich sein Interesse
für Ethnologie und Soziologie zunehmend entwickelte (etwa Sociologie
de l'Algérie, 1958, Le déracinement, 1964,
und La maison kabyle ou le monde renversé, 1970). Seit
1981 lehrte Bourdieu auf dem Lehrstuhl für Soziologie am Collège
de France. In dieser Zeit begann auch seine Beratertätigkeit
für die Gewerkschaft C.F.D.T. 1993 wurde er mit der höchsten
Wissenschaftsauszeichnung Frankreichs, der "Médaille d'or des
Centre National Recherche Scientifique" geehrt. Pierre Bourdieu ist
am Mittwochabend im Alter von 71 Jahren in Paris gestorben.
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