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  Pierre Bourdieu

 
   

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Décès de Pierre Bourdieu :(
 

 
   

 


Pierre Bourdieu

 Intellektueller Volkstribun.



CHRISTIAN SCHLÜTER, Frankfurter Rundschau, 25.01.2002.

 


  

Dank seines Blicks für feine Unterschiede wurde alles anders : Zum Tod des französischen Soziologen Pierre Bourdieu.

So lange ist es noch gar nicht her. Eine ältere Generation der Kulturkritik hatte uns längst daran gewöhnt, die Vielfalt unseres Konsumverhaltens, unserer Geschmäcker und Lebensstile immer nur wieder als großen Irrtum zu durchschauen. Die kulturelle Vielfalt sei vielmehr eine Schimäre, ein einziger Verblendungszusammenhang, bloßer Schein; in Wahrheit hätten Konsum- und Bewusstseinsgüterindustrie jedwede Besonderheit sich unterworfen und wäre die Warenform längst zum alles durchherrschenden Prinzip geworden. An Alternativen war also nicht mehr zu denken, zu unerbittlich und umfassend war das Unheil über uns hereingebrochen: Eine überaus listige Dialektik hatte die einstmals hoffnungsvolle Egalité der Aufklärung zur industrienormierten Gleichmacherei verbogen.

Als der französische Soziologe Pierre Bourdieu sein Buch Die feinen Unterschiede vorlegte, war auf einmal alles anders. 1979 in Frankreich und 1984 in deutscher Sprache erschienen, breitete seine "Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft" - so lautet der Untertitel in vager Anlehnung an Immanuel Kant - einem staunenden und zugleich erschrockenen Publikum den ungeheuren Reichtum seiner Alltagswirklichkeit aus. Bourdieus gut 900 Seiten schwere Untersuchung verlor sich dabei nicht so sehr in erkenntnistheoretischen oder geschichtsphilosophischen Spekulationen, sondern überzeugte durch ihren Materialreichtum. Dabei war dem Soziologen nichts Menschliches fremd; kurzerhand unterlief er die gebräuchliche Unterscheidung zwischen höherer und niederer Kultur, ihn interessierte schlicht alles.

Man durfte sich also ertappt fühlen. Bourdieus Domäne waren die Lebensstile. Freizeitgestaltung, Essverhalten, Schönheitsideale, Kino, Theater - oder Galeriebesuche, akademische und andere Titel, Wohnungseinrichtungen und Urlaubsorte - in all dem entdeckte Bourdieu ein dichtes Gewirr verschiedener Strategien, mit deren Hilfe sich die gesellschaftlichen Akteure um Distinktionsgewinne mühen. Auf die Unterschiede kommt es eben an: Ein Kampf um symbolisches Kapital, also um Anerkennung, Ruhm und Ehre, durchzieht das soziale Feld; eine Konkurrenz, bei der jeder Teilnehmer, mit anderen Worten: wir alle, auf eine für sich einträgliche Weise zu agieren versucht. Dabei geht es mitunter kleinlich bis kleinkariert zu. Auf dem Feld der Ehre und des Ruhms ist nichts wirklich peinlich.

Dies gilt insbesondere auch, so lautet eine der Kränkungen, die Bourdieu für uns bereit hält, für altehrwürdige Institutionen, etwa Universitäten oder den Literaturbetrieb. Das hat er in minutiösen Studien zu Gustave Flaubert oder zum französischen Erfolgs - und Meisterdenker Jean-Paul Sartre eindringlich dargelegt. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang auch Bourdieus bereits 1976 in deutscher Übersetzung erschienenes Buch Die politische Ontologie Martin Heideggers (frz. 1975) sowie seine wiederum breit angelegte Untersuchung über den Homo Academicus, aus dem Jahre 1988 (frz. 1984). Sichtbar wird hier ein intellektuelles Feld, das für sich genommen zwar weitgehend autonom ist, innerhalb dessen aber die Akteure ganz disparate Strategien verfolgen, eingespannt zwischen Orthodoxie und Heterodoxie.

Innerhalb eines sozialen Feldes - dieser Begriff ist entscheidend für Bourdieu - findet eine Auseinandersetzung zwischen den repräsentativen Institutionen, der vorherrschenden Lehre oder Meinung, dem Etablierten und fraglos Hingenommenen auf der einen Seite und dem Neuen und Abweichenden, gegebenenfalls sogar Subversiven auf der anderen Seite statt. So hat etwa Martin Heideggers Kritik am herrschenden Neukantianismus seiner Zeit und seine Parteinahme für ein neues "ursprüngliches" Denken ihm erhebliche Distinktionsgewinne eingebracht: Seine "Metaphysik des Provinziellen", sein Jargon der Unmittelbarkeit versprach eine Überwindung der an Formstrenge und Allgemeinheitspostulaten geradezu erstickenden Universitätsphilosophie - kleinbürgerliche Aufstiegsfantasien, wie der Soziologe Bourdieu anmerkt.

In jeder Strategie spiegelt sich zugleich auch ein bestimmtes Milieu wieder. Auch da, wo es um scheinbar unverrückbare oder unmittelbare Wahrheiten geht. Dies verweist auf einen weiteren zentralen Begriff bei Bourdieu: den Habitus. Er ist eine Art Vermittlungsinstanz zwischen dem agierenden Individuum und der Kollektivität seines Zeitalters, eines Systems unbewusster und verinnerlichter Verhaltensmuster. Eine Strategie muss verkörpert, also habitualisiert sein, um wirksam werden zu können, wie Bourdieu in seiner 1970 erschienenen Soziologie der symbolischen Formen ausgeführt hat. Jedes Handeln trägt insofern einen milieubedingten und damit auch einen historischen Index. Es ist immer von dieser Welt - auch wenn es sich durch einen ominösen Jenseitsbezug ermächtigt glaubt.

Dazu passt auch, dass Bourdieu über sein umfängliches wissenschaftliches Werk hinaus, es immer verstanden hat, seine Arbeit politisch einzusetzen. So rief er bereits 1993 zu einer "Internationalen der Intellektuellen" auf, einem Bündnis gegen den Neoliberalismus, gegen "Ökonomismus und Flexibilisierung". Intellektuelle, so Bourdieu, sollten sich nicht in ihren Institutionen verstecken, sondern ihre Kompetenz in die gesellschaftliche Debatte einbringen. Seine Motive legte er in einem Interview dar: "Menschenrechtsverletzungen, Fremdenfeindlichkeit, Nord-Süd-Gefälle ... die Ohnmacht der Wissenschaftler - die Liste kann fortgesetzt werden. All das erschreckt mich so, dass ich etwas tun muss, selbst wenn ich keine Illusionen habe."

Bourdieus Bücher erreichen mittlerweile Auflagen, von denen andere nur träumen können. Sein 1997 erschienenes Das Elend der Welt (frz. 1993), eine gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern erarbeitete monumentale Sozialrecherche der französischen Unterschichten, oder seine Gegenfeuer, eine fortgesetzte Sammlung von Einsprüchen und Widerreden aus den 90er Jahren - nicht zuletzt auch sein politisches Engagement hat den Franzosen zu einem der bekanntesten Intellektuellen Europas gemacht. Zu seiner Strategie hat er einmal gesagt: "Man muss es fertig bringen, Wissenschaft und Militanz zu versöhnen, den Intellektuellen die Rolle von Militanten der Vernunft wiederzugeben, die sie etwa im 18. Jahrhundert hatten." Eben das beabsichtigte Bourdieu auch mit einer kleinen Buchreihe Raison d'agir (Gründe zu handeln), die er gemeinsam mit Kollegen seit 1996 herausgab.

Bourdieu ist immer wieder gegen die "Geißel" des Neoliberalismus, gegen das gesamteuropäische "Tietmeyer-Denken" zur Felde gezogen. Wo immer französische Arbeitslose, Einwanderer oder Gewerkschafter ihren Protest artikulierten, konnten sie sich der Unterstützung des Wissenschaftlers sicher sein. Daran änderte sich auch nach dem Wahlsieg der Linkskoalition in Frankreich nichts - er blieb ein "intellektueller Volkstribun".

Pierre Bourdieu wurde 1930 im südfranzösischen Denguin (Béarn) geboren. Nach dem Studium der Philosophie an der Elitehochschule École normale supérieure in Paris arbeitete er zunächst als Lehrer, bevor er 1958 wissenschaftlicher Assistent an der philosophischen Fakultät in Algier wurde. In dieser Zeit begann er mit einer Reihe von Arbeiten über Algerien, in denen sich sein Interesse für Ethnologie und Soziologie zunehmend entwickelte (etwa Sociologie de l'Algérie, 1958, Le déracinement, 1964, und La maison kabyle ou le monde renversé, 1970). Seit 1981 lehrte Bourdieu auf dem Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France. In dieser Zeit begann auch seine Beratertätigkeit für die Gewerkschaft C.F.D.T. 1993 wurde er mit der höchsten Wissenschaftsauszeichnung Frankreichs, der "Médaille d'or des Centre National Recherche Scientifique" geehrt. Pierre Bourdieu ist am Mittwochabend im Alter von 71 Jahren in Paris gestorben.
   


Pierre Bourdieu

       
 

   
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