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  Pierre Bourdieu

 
   

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Décès de Pierre Bourdieu :(
 

 
   

 


Pierre Bourdieu

 Zum Tode von Pierre Bourdieu
 Der Soziologe starb am Mittwoch in Paris.



NILS MINKMAR, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.01.2002, Nr. 21 / Seite 45.

 


  

Die feinen Unterschiede sichtbar machen: Zum Tod des Soziologen Pierre Bourdieu.

Pierre Bourdieu betrat einen Raum immer so, als sei es ihm etwas peinlich, Pierre Bourdieu zu sein. Einmal mußten die Doktoranden im trostlosen Seminarraum der École des Hautes Études besonders lange auf ihn warten, und als er endlich kam, war es ihm besonders unangenehm, zu spät zu sein, und noch unangenehmer, derart erwartet zu werden. Aus Verlegenheit und um Zeit zu gewinnen sprach er möglichst schnell, mit einem deutlichen südfranzösischen Akzent. "Wißt ihr was? Ich habe euch völlig vergessen. Und ich bin auch nicht vorbereitet. Kein Ahnung, was wir hier heute machen sollen", sagte er, selbst ganz erstaunt, mit einer alten Plastiktüte unter dem Arm. "Ich habe aber meine Post dabei", und er begann, einige Umschläge zu öffnen und still zu lesen. Langsam, aber sicher wuchs das Entsetzen des Publikums. "Jetzt lese ich euch mal meine Post vor. Und ihr denkt sicher, der Alte hat sie nicht mehr alle."

Der erste Brief war von einem indischen Kunsthistoriker, der klassische hinduistische Künstler untersuchen wollte und entdeckt hatte, daß diese angeblich originär indische Kunst in den Pariser Akademien des späten neunzehnten Jahrhunderts erfunden worden war. "Was antworte ich ihm? Inhaltlich hat er natürlich recht, aber sein Stipendium von der indischen Regierung kann er vergessen." Ein anderer Brief kam von einem katholischen Geistlichen in der Bretagne, der vom Glauben abgefallen war und jetzt als Religionssoziologe arbeiten wollte. "Die gibt es aber wie Sand am Meer. Da wird er gleich arbeitslos." Die täglichen Postberge des Professors Bourdieu waren eine Sammlung von Fällen wissenschaftlicher Ratlosigkeit. Wie überlebt man die Sozialwissenschaften? Das wurde zum eigentlichen Thema der spannenden Sitzung. Und was macht die Wissenschaft mit denen, die sie praktizieren?

Ihn selbst hatte die Wissenschaft schon früh, als Abiturienten, aus dem Béarn nach Paris entführt, einer Stadt, die ihm suspekt blieb und die ihn anstrengte, weil sie ihm so viel Stoff bot. Auf Schritt und Tritt glaubte er den modernen Formen der schon vom Herzog von Saint-Simon beschriebenen höfischen Machtspiele zu begegnen und jede Métrofahrt brachte neue Anschauung. Zwei Frauen, die sich von ihren Umzügen erzählten, brachten ihn auf die Idee, das Wohnen als wesentliches kulturelles Interface zwischen sozialem Aufstieg, Bildungskarriere und Familiengeschichte zu untersuchen. In der Wohnung eines Freundes im Quartier Latin fiel ihm ein Schuhkarton mit Fotos in die Hände. Er bat, ihn mit nach Hause nehmen zu dürfen, und begann, wie üblich am Küchentisch, zu untersuchen, wo und von wem eigentlich Fotos gemacht werden. "99 Prozent aller Sozialwissenschaftler hätten mir davon abgeraten, den Karton auch nur anzurühren, bevor ich nicht die theoretischen Präliminarien geklärt habe."

Vielleicht war ihm die Freude sogar unheimlich, die es ihm bereitete, seiner unbändigen Neugier nachzugeben und die sozialen Akteure - vom Kardinal zum Hilfsarbeiter - in ihrem jeweiligen "Feld" aufzusuchen, womit er seiner eigenen ländlichen Herkunft Tribut zollte. In seinen Büchern - "Entwurf einer Theorie der Praxis", "Die feinen Unterschiede" oder "Homo Academicus" - wirkten seine Analysen der sozialen und kulturellen Praxis dagegen oft wie eingemauert von theoretischen Apologien für die Freude an der Anschauung.

Eine Art Ausweg fand Bourdieu in seinem wichtigsten und folgenreichsten Begriff, dem von Panofsky entlehnten und weitergedachten "Habitus", jener zugleich geistigen wie körperlichen Vermittlungsinstanz zwischen soziokultureller Bedingtheit und individueller Praxis, zwischen der trägen Objektivität und dem launischen Geschmack des Subjekts. Mit dem Habitus war zu erklären, warum Architekturstudenten gern schwarze Rollkragenpullover tragen und warum die Bauern in den Kabylen manchmal zu stolz sind, auf dem Markt Fleisch zu niedrigen Preisen zu kaufen. Der Habitusbegriff ermöglichte es Bourdieu, eine Einsicht elegant zu formulieren, die seinen skeptischen Blick auf die Ideale der Aufklärung begründete: Menschen handeln manchmal nach kulturellen Regeln, deren sie sich gar nicht bewußt sind und die sie selbst nicht beschreiben könnten.

Darum war es für Bourdieu ein besonderer Wagnis, als er sich Anfang der neunziger Jahre darauf einließ, mit jungen Kollegen ein Buch herauszugeben, das fast nur aus Interviews bestand: "La Misère du monde" (1993) ist zu einem seiner wichtigsten Bücher geworden. Es beschreibt die Auswirkungen der neoliberalen Reformen auf die französische Gesellschaft, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und den Rückzug des Staates aus der Bildungs - und Sozialpolitik, indem es die handelnden, leidenden Individuen einfach zu Wort kommen läßt. Damit war Bourdieu auf ein völlig neues Terrain geraten: neunhundert Seiten mit den Aussagen von Zeitgenossen, das hatte man vom Meisterdenker zuletzt erwartet. Das Buch wurde ein kulturelles und politisches Ereignis, und ein Erfolg obendrein. Zugleich bescherte es Bourdieu eine neue Rolle, die des politischen Intellektuellen. Während der Protestbewegungen Mitte der neunziger Jahre spielte er die Rolle des distinguiertesten Kritikers der konservativen Regierung Juppé und begann zugleich, die Antiglobalisierungsbewegung in ihren Anfängen zu unterstützen. Er war einer der Gründer der heute in Frankreich so einflußreiche Attac-Bewegung.

Seitdem lebte er mit einer doppelten Berühmtheit: als meistzitierter Wissenschaftler Europas und als politischer Aktivist. Traf man ihn unter vier Augen, sprach er bald davon, wie lästig ihm das war: "Das nervt mich alles. Nachts träume ich davon, unterzutauchen, einen anderen Namen anzunehmen und zurückzukehren in den Béarn." Aber erst muß er noch nach Marseille, zu einem Kolloquium. "Da gehe ich nur kurz hin", erklärt er fröhlich, "danach fahr ich in die Banlieue, klingele irgendwo und stelle dumme Fragen über die Möbel, über die Schule und übers Essen." Er blickt auf die Uhr, er muß zum Zug. Pierre Bourdieu ist am Mittwoch abend in Paris gestorben.


Thema und Lektüre
Pierre Bourdieu war die Trennung von Praxis und Theorie von Grund auf verdächtig.

Faz, 24. Jan. 2002. 

Pierre Bourdieu, der große französische Soziologe, ist am Mittwochabend in Paris gestorben. In den letzten Jahren veröffentlichte der Fürsprecher der Globalisierungsgegner fast jedes Jahr ein Buch. Sein Tod ist ein schwerer Verlust, nicht nur für das intellektuelle Frankreich.

In seinen Schriften wendete sich Bourdieu gegen wissenschaftliche Isolation und intellektuelle Abgrenzung. Er plädierte stets für ein praxisorientiertes Handeln. Aus der anspruchsvollen Atmosphäre der Elite-Hochschulen von Paris, an denen er studiert hatte, war er am Anfang seiner beruflichen Tätigkeit zu den Arbeitslosen in Algier gelangt, um soziologische Studien zu treiben. Nach seiner Meinung war nur die Soziologie mit ihren "rationalen Erkenntnisinstrumenten" in der Lage, all die Mechanismen der "Herrschaft" in der Gesellschaft aufzudecken. Die deutschen Rezensenten konnten ihm nicht immer auf allen Wegen folgen.

"Meditationen" -zur Kritik der scholastischen Vernunft

In seinem zuletzt auf Deutsch erschienen Buch würdigt Bourdieu seinen Gewährsmann Pascal als wahlverwandten Kritiker eines philosophischen Begründungsimperialismus, und erfreut sich an dessen Blick auf all jene Seiten des Subjekts, die nicht in bewusster Reflexion und Planung aufgehen. Vorbildlich erscheint ihm Pascals Gespür für den gesunden Menschenverstand bis in die kleinsten Facetten. Und wichtig war ihm dessen Unterscheidung von "Logischen Implikationen" und "praktischen Folgen". Doch, so findet der Rezensent dieser 2001 erschienenen Schrift, wird der rebellische Ausgangsimpuls des Buches, sein Plädoyer für die schöpferische Autonomie der Praxis, in dem unfrohen Weltbild der Soziologie schließlich kaum eingelöst.

"Das Elend der Welt" - Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft

Vierzig Interviews mit Schülern, Lehrern, Richtern, Polizisten, Kleinkriminellen, Gewerkschaftern, Angestellten, Mietern und Hausmeistern wird jeweils eine Einschätzung aus der Sicht des Soziologen vorangestellt. Den Erzählungen von alltäglichen Sorgen, die um Finanzen, menschliche Katastrophen und private Schicksale kreisen, werden so eingestimmt, aber auch richtig gestellt. Wichtige Punkte werden neutral geschildert und eingeordnet, was zu ermüdenden Wiederholungen führt, wie Shirin Sojitrawalla findet, die sich für das Buch ausführlich Zeit genommen hat.

"Praktische Vernunft" - zur Theorie des Handelns

Im Unterbewussten wussten wir es ja schon: In Wahrheit ist alles Handeln von ökonomischen oder biologischen Triebfedern bestimmt: vom Klassenstandpunkt, vom Willen zur Macht oder vom Über-ich. So jedenfalls entlarvt die Soziologie aus der Perspektive Pierre Bourdieus das Handeln im Alltag. Während die Begründung der Handelnden selbst als Formen des Selbstbetrugs bezeichnet werden. Nach Meinung von Jürgen Kaube bietet das Buch eine "vorzügliche Einführung in eine Soziologie, die das Besserwissen in ein Berufsethos überführt hat."

"Freier Austausch" - für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens

Der Band vereint ausführliche Dialoge zwischen dem deutschen Künstler Hans Haacke und Pierre Bourdieu. Es geht um Fragen der "Unabhängigkeit der Kultur angesichts all der Mechanismen der Einflussnahme und Zensur", die sie heute begleiten. So fasst es Thomas Wagner in seiner Rezension zusammen, die außerdem einige Hauptargumente gegen den Rückzug des Staates aus der Finanzierung von Kunst, Literatur und Wissenschaft herausarbeitet, die Haacke und Bourdieu vereint.

So subventioniere das Sponsoring am Ende nur die eigene Irreführung. Kann sich doch kaum ein Veranstalter auf Dauer den Interessen des Geldgebers völlig entziehen. Hat sich das Sponsoring aber erst einmal etabliert und sind die Institutionen abhängig geworden, lässt sich dieser Weg kaum noch umkehren. Damit aber laufe die Freiheit der Kunst Gefahr unterschwellig von wirtschaftlichen Interessen gesteuert zu werden. Es gibt Grundbedingungen für eine kritische Kultur, die nur der Staat schaffen kann. Aber es ist auch der Staat, der stets Gefahr läuft Mittelmässigkeit zu fördern. Diesen Dilemma liegt nach Meinung des Rezensenten eine "grundsätzliche Veränderung des Kulturbegriffs" zu Grunde.


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