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Die
feinen Unterschiede sichtbar machen: Zum Tod des Soziologen Pierre
Bourdieu.
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Bourdieu betrat einen Raum immer so, als sei es ihm etwas peinlich,
Pierre Bourdieu zu sein. Einmal mußten die Doktoranden im trostlosen
Seminarraum der École des Hautes Études besonders lange
auf ihn warten, und als er endlich kam, war es ihm besonders unangenehm,
zu spät zu sein, und noch unangenehmer, derart erwartet zu werden.
Aus Verlegenheit und um Zeit zu gewinnen sprach er möglichst
schnell, mit einem deutlichen südfranzösischen Akzent. "Wißt
ihr was? Ich habe euch völlig vergessen. Und ich bin auch nicht
vorbereitet. Kein Ahnung, was wir hier heute machen sollen", sagte
er, selbst ganz erstaunt, mit einer alten Plastiktüte unter dem
Arm. "Ich habe aber meine Post dabei", und er begann, einige
Umschläge zu öffnen und still zu lesen. Langsam, aber sicher
wuchs das Entsetzen des Publikums. "Jetzt lese ich euch mal meine
Post vor. Und ihr denkt sicher, der Alte hat sie nicht mehr alle."
Der erste Brief war von einem indischen Kunsthistoriker, der klassische
hinduistische Künstler untersuchen wollte und entdeckt hatte,
daß diese angeblich originär indische Kunst in den Pariser
Akademien des späten neunzehnten Jahrhunderts erfunden worden
war. "Was antworte ich ihm? Inhaltlich hat er natürlich recht,
aber sein Stipendium von der indischen Regierung kann er vergessen."
Ein anderer Brief kam von einem katholischen Geistlichen in der Bretagne,
der vom Glauben abgefallen war und jetzt als Religionssoziologe arbeiten
wollte. "Die gibt es aber wie Sand am Meer. Da wird er gleich arbeitslos."
Die täglichen Postberge des Professors Bourdieu waren eine Sammlung
von Fällen wissenschaftlicher Ratlosigkeit. Wie überlebt
man die Sozialwissenschaften? Das wurde zum eigentlichen Thema der
spannenden Sitzung. Und was macht die Wissenschaft mit denen, die
sie praktizieren?
Ihn selbst hatte die Wissenschaft schon früh, als Abiturienten,
aus dem Béarn nach Paris entführt, einer Stadt, die ihm
suspekt blieb und die ihn anstrengte, weil sie ihm so viel Stoff bot.
Auf Schritt und Tritt glaubte er den modernen Formen der schon vom
Herzog von Saint-Simon beschriebenen höfischen Machtspiele zu
begegnen und jede Métrofahrt brachte neue Anschauung. Zwei
Frauen, die sich von ihren Umzügen erzählten, brachten ihn
auf die Idee, das Wohnen als wesentliches kulturelles Interface zwischen
sozialem Aufstieg, Bildungskarriere und Familiengeschichte zu untersuchen.
In der Wohnung eines Freundes im Quartier Latin fiel ihm ein Schuhkarton
mit Fotos in die Hände. Er bat, ihn mit nach Hause nehmen zu
dürfen, und begann, wie üblich am Küchentisch, zu untersuchen,
wo und von wem eigentlich Fotos gemacht werden. "99 Prozent aller
Sozialwissenschaftler hätten mir davon abgeraten, den Karton
auch nur anzurühren, bevor ich nicht die theoretischen Präliminarien
geklärt habe."
Vielleicht war ihm die Freude sogar unheimlich, die es ihm bereitete,
seiner unbändigen Neugier nachzugeben und die sozialen Akteure - vom
Kardinal zum Hilfsarbeiter - in ihrem jeweiligen "Feld"
aufzusuchen, womit er seiner eigenen ländlichen Herkunft Tribut
zollte. In seinen Büchern - "Entwurf einer Theorie
der Praxis", "Die feinen Unterschiede" oder "Homo Academicus" - wirkten
seine Analysen der sozialen und kulturellen Praxis dagegen oft wie
eingemauert von theoretischen Apologien für die Freude an der
Anschauung.
Eine Art Ausweg fand Bourdieu in seinem wichtigsten und folgenreichsten
Begriff, dem von Panofsky entlehnten und weitergedachten "Habitus",
jener zugleich geistigen wie körperlichen Vermittlungsinstanz
zwischen soziokultureller Bedingtheit und individueller Praxis, zwischen
der trägen Objektivität und dem launischen Geschmack des
Subjekts. Mit dem Habitus war zu erklären, warum Architekturstudenten
gern schwarze Rollkragenpullover tragen und warum die Bauern in den
Kabylen manchmal zu stolz sind, auf dem Markt Fleisch zu niedrigen
Preisen zu kaufen. Der Habitusbegriff ermöglichte es Bourdieu,
eine Einsicht elegant zu formulieren, die seinen skeptischen Blick
auf die Ideale der Aufklärung begründete: Menschen
handeln manchmal nach kulturellen Regeln, deren sie sich gar nicht
bewußt sind und die sie selbst nicht beschreiben könnten.
Darum war es für Bourdieu ein besonderer Wagnis, als er sich
Anfang der neunziger Jahre darauf einließ, mit jungen Kollegen
ein Buch herauszugeben, das fast nur aus Interviews bestand: "La
Misère du monde" (1993) ist zu einem seiner wichtigsten
Bücher geworden. Es beschreibt die Auswirkungen der neoliberalen
Reformen auf die französische Gesellschaft, die wachsende Kluft
zwischen Arm und Reich und den Rückzug des Staates aus der Bildungs - und
Sozialpolitik, indem es die handelnden, leidenden Individuen einfach
zu Wort kommen läßt. Damit war Bourdieu auf ein völlig
neues Terrain geraten: neunhundert Seiten mit den Aussagen von Zeitgenossen,
das hatte man vom Meisterdenker zuletzt erwartet. Das Buch wurde ein
kulturelles und politisches Ereignis, und ein Erfolg obendrein. Zugleich
bescherte es Bourdieu eine neue Rolle, die des politischen Intellektuellen.
Während der Protestbewegungen Mitte der neunziger Jahre spielte
er die Rolle des distinguiertesten Kritikers der konservativen Regierung
Juppé und begann zugleich, die Antiglobalisierungsbewegung
in ihren Anfängen zu unterstützen. Er war einer der Gründer
der heute in Frankreich so einflußreiche Attac-Bewegung.
Seitdem lebte er mit einer doppelten Berühmtheit: als meistzitierter
Wissenschaftler Europas und als politischer Aktivist. Traf man ihn
unter vier Augen, sprach er bald davon, wie lästig ihm das war: "Das
nervt mich alles. Nachts träume ich davon, unterzutauchen, einen
anderen Namen anzunehmen und zurückzukehren in den Béarn."
Aber erst muß er noch nach Marseille, zu einem Kolloquium. "Da
gehe ich nur kurz hin", erklärt er fröhlich, "danach
fahr ich in die Banlieue, klingele irgendwo und stelle dumme Fragen
über die Möbel, über die Schule und übers Essen."
Er blickt auf die Uhr, er muß zum Zug. Pierre Bourdieu ist am
Mittwoch abend in Paris gestorben.
Thema
und Lektüre
Pierre Bourdieu war die Trennung von Praxis und Theorie von
Grund auf verdächtig.
Faz,
24. Jan. 2002.
Pierre
Bourdieu, der große französische Soziologe, ist am Mittwochabend in
Paris gestorben. In den letzten Jahren veröffentlichte der Fürsprecher
der Globalisierungsgegner fast jedes Jahr ein Buch. Sein Tod ist ein
schwerer Verlust, nicht nur für das intellektuelle Frankreich.
In
seinen Schriften wendete sich Bourdieu gegen wissenschaftliche Isolation
und intellektuelle Abgrenzung. Er plädierte stets für ein praxisorientiertes
Handeln. Aus der anspruchsvollen Atmosphäre der Elite-Hochschulen
von Paris, an denen er studiert hatte, war er am Anfang seiner beruflichen
Tätigkeit zu den Arbeitslosen in Algier gelangt, um soziologische
Studien zu treiben. Nach seiner Meinung war nur die Soziologie mit
ihren "rationalen Erkenntnisinstrumenten" in der Lage, all
die Mechanismen der "Herrschaft" in der Gesellschaft aufzudecken.
Die deutschen Rezensenten konnten ihm nicht immer auf allen Wegen
folgen.
"Meditationen"
-zur Kritik der scholastischen Vernunft
In
seinem zuletzt auf Deutsch erschienen Buch würdigt Bourdieu seinen
Gewährsmann Pascal als wahlverwandten Kritiker eines philosophischen
Begründungsimperialismus, und erfreut sich an dessen Blick auf all
jene Seiten des Subjekts, die nicht in bewusster Reflexion und Planung
aufgehen. Vorbildlich erscheint ihm Pascals Gespür für den gesunden
Menschenverstand bis in die kleinsten Facetten. Und wichtig war ihm
dessen Unterscheidung von "Logischen Implikationen" und
"praktischen Folgen". Doch, so findet der Rezensent dieser
2001 erschienenen Schrift, wird der rebellische Ausgangsimpuls des
Buches, sein Plädoyer für die schöpferische Autonomie der Praxis,
in dem unfrohen Weltbild der Soziologie schließlich kaum eingelöst.
"Das
Elend der Welt" - Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens
an der Gesellschaft
Vierzig
Interviews mit Schülern, Lehrern, Richtern, Polizisten, Kleinkriminellen,
Gewerkschaftern, Angestellten, Mietern und Hausmeistern wird jeweils
eine Einschätzung aus der Sicht des Soziologen vorangestellt. Den
Erzählungen von alltäglichen Sorgen, die um Finanzen, menschliche
Katastrophen und private Schicksale kreisen, werden so eingestimmt,
aber auch richtig gestellt. Wichtige Punkte werden neutral geschildert
und eingeordnet, was zu ermüdenden Wiederholungen führt, wie Shirin
Sojitrawalla findet, die sich für das Buch ausführlich Zeit genommen
hat.
"Praktische
Vernunft" - zur Theorie des Handelns
Im
Unterbewussten wussten wir es ja schon: In Wahrheit ist alles Handeln
von ökonomischen oder biologischen Triebfedern bestimmt: vom Klassenstandpunkt,
vom Willen zur Macht oder vom Über-ich. So jedenfalls entlarvt die
Soziologie aus der Perspektive Pierre Bourdieus das Handeln im Alltag.
Während die Begründung der Handelnden selbst als Formen des Selbstbetrugs
bezeichnet werden. Nach Meinung von Jürgen Kaube bietet das Buch eine
"vorzügliche Einführung in eine Soziologie, die das Besserwissen
in ein Berufsethos überführt hat."
"Freier
Austausch" - für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens
Der
Band vereint ausführliche Dialoge zwischen dem deutschen Künstler
Hans Haacke und Pierre Bourdieu. Es geht um Fragen der "Unabhängigkeit
der Kultur angesichts all der Mechanismen der Einflussnahme und Zensur",
die sie heute begleiten. So fasst es Thomas Wagner in seiner Rezension
zusammen, die außerdem einige Hauptargumente gegen den Rückzug des
Staates aus der Finanzierung von Kunst, Literatur und Wissenschaft
herausarbeitet, die Haacke und Bourdieu vereint.
So
subventioniere das Sponsoring am Ende nur die eigene Irreführung.
Kann sich doch kaum ein Veranstalter auf Dauer den Interessen des
Geldgebers völlig entziehen. Hat sich das Sponsoring aber erst einmal
etabliert und sind die Institutionen abhängig geworden, lässt sich
dieser Weg kaum noch umkehren. Damit aber laufe die Freiheit der Kunst
Gefahr unterschwellig von wirtschaftlichen Interessen gesteuert zu
werden. Es gibt Grundbedingungen für eine kritische Kultur, die nur
der Staat schaffen kann. Aber es ist auch der Staat, der stets Gefahr
läuft Mittelmässigkeit zu fördern. Diesen Dilemma liegt nach Meinung
des Rezensenten eine "grundsätzliche Veränderung des Kulturbegriffs"
zu Grunde.
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