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GEGENFEUER
- Pierre Bourdieu ging es um die Analyse der praktischen Welt und
der Gestalten der Macht.
ierre
Bourdieu wollte in den letzten Jahren seine Arbeit vor allem als Anthropologie
verstanden wissen, als umfassende Analytik des vergesellschafteten
Menschen. Denn für den ausgebildeten Philosophen, dem die Schulphilosophie
nicht behagte, ließ sich über den Umweg der Ethnographie
etwas entdecken, das die französische Sozialwelt in ein anderes
Licht rückte, und das die tonangebenden Systeme der Philosophie,
der Soziologie und der Ethnologie nur schlecht erfassten: eine
erfindungsreiche, gewandte Praxis der Gesellschaftsmitglieder, die
sie sich "wie Fische im Wasser" in ihrer Welt bewegen lässt,
da sie mit einem "Sinn für das Spiel" ausgestattet sind.
Das Bemühen um eine "Praxeologie" als bessere Wissenschaft vom
menschlichen Handeln wurde zum Dreh- und Angelpunkt eines facettenreichen
Denkunternehmens, das sich im engen Kontakt mit der soziologischen
und philosophischen Tradition entfaltete. Bourdieus rastlose Analytik
sichtete und durchforstete die Bestände, um gegen unproduktive
Dualismen anzugehen, selbst den noch von Theorie und Empirie, und
im Ausspielen von Theoriesträngen gegeneinander Land zu gewinnen.
Hier entfaltete Bourdieu eine Selbstkritik der akademischen Vernunft: wenn
die tatsächliche Verfasstheit dieser Praktiken neues Licht auf
die moderne Gegenwartsgesellschaft werfen konnte, dann auch auf die
Betriebsbedingungen einer beobachtend-theoretisierenden Vernunft mit
ihrer institutionalisierten Distanz zum Alltag. Bourdieu bemängelte
stets die "Abkapselung" der akademischen Welt, in der sie ihre Produkte
hervorbringt, und die partielle "Erblindung" abgeschotteter Denkuniversen,
die daraus folgen konnte.
All die alltäglichen Praktiken, so Bourdieu, sind vernünftiger,
als man aus der Position einer distanzierten Wissenschaft gemeinhin
zu denken geneigt ist. Und sie sind dabei doch in anderer Weise vernünftig,
als es die beobachtend-theoretisierende Vernunft dem "freischwebenden"
Beobachter nahe legt und in Theorien gießen lässt, die
auf volle Bewusstheit und "rational choice" bauen. Dass dies so sein
kann, erschließt sich ihm wesentlich durch einen Zugang, der
sich als veritable Theorie des Eingeboren-Seins bezeichnen ließe.
Die Erfolgsträchtigkeit der Denk-, Wahrnehmungs- und
Handlungsweisen im Alltag verdankt sich für Bourdieu wesentlich
dem "Vergessen, dass die Erfahrung von der Welt als etwas Selbstverständlichem
eine sozial konstruierte Beziehung ist."
In diesem erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Impetus
seines Werks ist Bourdieu nicht nur französischen, sondern auch
deutschen Denkern stets nahe gewesen. Cassirer und Husserl bildeten
explizite Referenzpunkte seines Denkens, und zu Kant kehrte er immer
wieder zurück. Heidegger wiederum wurde zu einer der herausragenden
Reibungsflächen, an der sich die Schieflage einer "scholastischen
Vernunft" aufzeigen und die eigene Denkhaltung scharf konturieren
ließ. Mit dem deutschen Philosophen Hans Blumenberg etwa teilte
Bourdieu die grundsätzliche Überzeugung von einer historischen
Akkumulationsbewegung der gesellschaftlichen Vernunft. Sie vollzieht
sich Bourdieu zufolge gerade über die fortlaufende Konkurrenz
von Weltsichten. Und doch ist das breite kulturelle Gedächtnis,
das dabei aufgeschichtet wird, nicht zu verwechseln mit denjenigen
partiellen Vernunftformen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils
tonangebend sind.
Im Geschmack fand Bourdieu die Grundlage eines unmittelbaren Verhältnisses
der Gesellschaftsmitglieder zu ihrer Welt, in dem bereits Sinnliches
sinnbildend wirkt und die "feinen Unterschiede" der vielgestaltigen
Lebensäußerungen eines "Habitus" mit dem ihm eigenen "Stil"
Teil der "praktischen Logik" der Menschen und der Gesellschaft sind.
Sinn wird zur Ressource ersten Ranges für das Leben in einer
auslegungsbedürftigen Welt. Schon die Situationen des Alltags
halten unzählige Gelegenheiten bereit, Haltungen, Werte und Orientierungsmuster
(Bourdieus "Dispositionen") in Anschlag zu bringen und damit auch
Sortierungen von Weltsichten zu vollziehen. Die Sozialwelt gilt dem
Denken Bourdieus mithin als Arena permanenter "symbolischer Kämpfe",
was nichts Aufgesetztes oder Simulatives meint, sondern sich mit dem
Auslegen der Welt selbst tief verbindet.
Mögen sich die unterschiedlichen Sichten der Dinge und der Welt
auch als natürliche geben, sind sie für Bourdieu doch historisch
gewachsene und an bestimmte soziale Orte und "Positionen" gebundene.
Damit wird der kulturell-symbolische Bestand in der Analytik Bourdieus
zugleich zu dem, was die "träge Gewalt der Sozialordnung" mit
transportiert. Von hier aus zielt dieses Denken auf die Überformung
von Erfahrungen zu Fakten und Sachverhalten eines bestimmten Typs
durch Expertendiskurse (wie Recht, Medizin, Ökonomie) genauso
wie auf die Deutungsarbeit der Medien, die Bourdieu als "Instrumente
der symbolischen Unterdrückung" scharf attackierte.
Bourdieus Stellungnahmen zur im Europa der 1990er Jahre vorherrschenden
Wirtschafts- und Sozialpolitik stemmten sich gegen den Geist
eines allgemeinen Konsenses über die Gestalt und die Prinzipien
der Welt und über die Mittel, mit denen ihr gegenüberzutreten
sei. Gegen den Rückbau des in unübersichtlichen Zeiten unzeitgemäß
gewordenen Wohlfahrtsstaates und das "Elend" der Ausgegrenzten entfaltete
er ein intellektuelles "Gegenfeuer", so auch der Titel einer Aufsatzsammlung,
das mit einer unterstützenden Begleitung der französischen
sozialen Bewegungen einherging und ihn schließlich für
eine Europäisierung der Gewerkschaften eintreten ließ.
Er pochte dabei auf eine breitere Vernunft, die mit dem homo oeconomicus
nicht ihre Grenzen findet. "Ökonomozentrismus" erschien in Bourdieus
Schriften schon früh als Vorherrschaft eines bestimmten historisch
ausdifferenzierten Vernunfttypus unter anderen, der auch seine blinden
Flecke hat. Prägnant formulierte er anläßlich eines
Interviews bereits 1985 eine Äquivalenz: "Vernunft ist eine
historische Errungenschaft, wie die Sozialversicherung." Mit dem Diskurs
der Globalisierung sah er die Gesellschaft mit einem Bild ihrer selbst
konfrontiert, das ihr einen vermeintlich unausweichlichen Entwicklungsweg
vorzeichnet und gegen dessen "Fatalität" er Einspruch erhob.
Bourdieus insistierende "Frage nach der sozialen Konstruktion der
Konstruktionsprinzipien dieser Realität" verhandelt neben der
Frage, wieviel an Gesellschaft denn am Menschen ist, zugleich die,
wie tief das Politische am zoon politikon sitzt, um von da aus bis
in die Sphären der explizit politischen Konfrontationen aufzusteigen.
Er war der Soziologe des leisen Waltens der symbolischen Macht, und
als solcher bleibt er zumal im deutschen Sprachraum noch zu entdecken.
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