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Bourdieu, eine der herausragenden Figuren der zeitgenössischen
Soziologie, ist am Abend des 23. Januar im Pariser Hôpital Saint-Antoine
71-jährig gestorben. Er war der weltweit am meisten zitierte
französische Intellektuelle der Gegenwart, und er verkörperte
wie kein Zweiter nach Sartre die spezifische Tradition des französischen
Intellektuellen, die Zola mit seiner Stellungnahme für Dreyfus
begründet hatte: den Intellektuellen, der zu den wichtigen Fragen
des öffentlichen Lebens Stellung bezieht. Es waren nicht diese
- umstrittenen - Interventionen allein, die seine Resonanz begründeten.
Pierre
Bourdieu hat mit seinem eindrucksvollen Oeuvre, das mehr als dreissig
Bücher umfasst, die Soziologie grundlegend erneuert. Das spezifische
Profil dieses Werkes verdankt sich auch seinem Lebensweg, der nicht
der eines klassischen Pariser Intellektuellen war.
Er
stammte aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen. Er war
am 1. August 1930 im kleinen Pyrenäenort Denguin zur Welt gekommen
und verleugnete diese Ursprünge nie. Seine Philosophie-Ausbildung
absolvierte er an einer der grossen Elite-Schulen Frankreichs, der
Ecole Normale Supérieure, und er dachte zunächst daran,
bei Canguilhem eine philosophische Dissertation zu schreiben, die
Fragen der Phänomenologie und der Wissenschaftsgeschichte in
Verbindung bringen sollte. Dazu kam es aber nicht. Er wurde 1955 zum
Militärdienst nach Algerien einberufen und blieb dort nach 1958
noch zwei Jahre als Assistent an der Universität von Algier.
Algerien
wurde für ihn zur entscheidenden Erfahrung. Hier «konvertierte»
er von der Philosophie zur Ethnologie und damit auch zu den in der
Disziplinenhierarchie niedriger eingestuften Sozialwissenschaften.
Diesem Perspektivenwechsel verdanke er, so unterstrich er mehrmals
im Gespräch, seine wesentlichen Einsichten. So legte er 1958
sein erstes Buch, «Sociologie de l'Algérie», vor,
in dem es ihm darum ging, die naiven utopischen Vorstellungen, die
Pariser Intellektuelle von der algerischen Gesellschaft hegten, zu
differenzieren. Im algerischen Kontext entwickelte er seine Kritik
am «Intellektualismus», an der naiven Vorstellung, die
Sichtweise des Beobachters sei identisch mit derjenigen des Handelnden.
Sein bleibendes Verdienst ist es, auf die spezifische Logik der Praxis
hingewiesen zu haben, eine Einsicht, die er in seinem zentralen Werk,
«Le sens pratique» (1980), systematisierte und die auch
noch in seinen «Méditations pascaliennes» (1997)
im Vordergrund stand, dem Werk, das im vergangenen Jahr als sein letztes
ins Deutsche übertragen wurde. - In der traditionalen Gesellschaft
der algerischen Kabylei entdeckte Bourdieu die relative Unabhängigkeit
des Symbolischen gegenüber dem Ökonomischen. Seine Soziologie
wurde so im Wesentlichen zu einer Soziologie der symbolischen Formen.
Seine Werke galten nicht so sehr den klassischen sozialen Fragen,
sondern diesem Bereich, der bis dato weniger in seiner sozialen Dimension
untersucht worden war.
Die
sozio-ethnologische Betrachtung Algeriens bestimmte seine Analyse
der französischen Gegenwartsgesellschaft. Im Zentrum stand hier
die Untersuchung der gesellschaftlichen Reproduktionsweise des Bildungssystems,
der Universitäten und der Eliteschulen. Seit Mitte der sechziger
Jahre stellte die Kultursoziologie im engeren Sinne einen Schwerpunkt
seines Schaffens dar. Hier ging es ihm um die soziale Bedingtheit
des Kulturkonsums am Beispiel der Photographie und des Museumsbesuches
- ein Untersuchungsansatz, der in die grosse Studie «La distinction»
(1979) mündete, die auf der Basis einer globalen Analyse der
Gesellschaft aufzeigt, wie dem Konsum der Kulturgüter die Funktion
sozialer Unterscheidung zukommt. Immer mehr versuchte Bourdieu aber,
gerade die Literatur nicht nur als Kulturkonsum zu verstehen, sondern
als ein eminentes Erkenntnisinstrument. Dieser Ansatz fand seinen
Ausdruck in der Analyse des literarischen Feldes («Les règles
de l'art», 1992), das gerade auch in Frankreich für die
Literaturwissenschaft sehr anregend wirkte.
Ein
grosses Echo fand die empirische Gemeinschaftsstudie «La misère
du monde» (1993), in der er eine eigene Schreibweise entwickelte,
um «Sprachlose» zu Wort kommen zu lassen. Seit Mitte der
siebziger Jahre engagierte sich Bourdieu immer aktiver in sozialen
Bewegungen und geisselte hier auch die intellektuelle Rechtfertigung
der Globalisierung. Dieses Engagement trug ihm nicht wenig Feindschaft
ein. Er verstand aber sein Eintreten für diese Sache nicht als
das eines «Gutmenschen», sondern als Konsequenz der soziologischen
Untersuchung der Ausgrenzung. Die Unbedingtheit seines Engagements
liess den Siebzigjährigen, dem eine zynische Abgeklärtheit
völlig abging, noch sehr jung erscheinen.
Arbeit
an der Leidenschaft.
Marc
Zitzmann, Neue Züricher Zeitung, 26.Januar 2002.
Französische Stimmen zum Tod von Pierre Bourdieu.
it
jenem unnachahmlichen Gespür für griffige Formeln, das die
Herolde des Staates entwickeln, wenn ein grosser Zeitgenosse stirbt,
ist der am Mittwoch einem Krebsleiden erlegene Pierre Bourdieu in
einer von Präsident Chirac unterzeichneten Würdigung ein
«penseur militant et un militant de la pensée»
genannt worden. In den Reaktionen und Artikeln zum Tod des französischen
Soziologen indes wird der Denker nur en passant erwähnt; das
Hauptaugenmerk gilt dem Aktivisten. «De mortuis nil nisi bene»:
Hätte die Maxime Gesetzeskraft, müsste man schliessen, Bourdieu
sei - angesichts der vielerorts zu vernehmenden geharnischten Kritiken
- noch am Leben.
Die schneidendste Abrechnung legt der Leiter der Seiten «Pages
et opinions» von «Le Figaro», Joseph Macé-Scaron,
vor: Bourdieu werde in Erinnerung bleiben als «der Repräsentant
der mythischen Figur des französischen Intellektuellen, die nicht
mit der Dreyfus-Affäre entstanden ist . . ., sondern mit Molières
Alceste. Eine Figur, die alle Doktrinen, alle Modelle, alle Systeme,
alle Irrungen durchlaufen hat und sich bis heute schwer tut mit der
Verteidigung des einzigen Gegenstandes, der diese Verteidigung verdient:
des Menschen.» Kurz: «Der geistige Pate jener prä-
oder a-marxistischen französischen Linken, jener archaischen
Linken, deren Ikone die reichen Stunden der Französischen Revolution
sind.» Der Soziologe Luc Boltanski schlägt, wiewohl respektvoller,
in dieselbe Kerbe: «Die letzten zehn oder fünfzehn Jahre
lasse ich ganz beiseite. Namentlich was Bourdieus Medienkritik angeht,
hatte man es nicht mehr mit Soziologie zu tun, sondern mit Agitprop.
. . . Wie im Fall des Lacanismus gab es um ihn eine kleine Gruppe
selbst ernannter Gefolgsleute, die wie eine politische Sekte funktionierte.»
Auch der Philosoph Pascal Bruckner verweist auf den «Widerspruch
zwischen der Tatsache, dass Bourdieu der Schüler eines der nuanciertesten
Denker gewesen ist, Raymond Aron, und dem Ende seiner Laufbahn in
einer manichäischen Postur».
Dagegen die Freunde und Mitstreiter! Jacques Derrida preist in «Le
Monde» den «alten Freund» und Mitstudenten, mit
dem es «Debatten und Uneinigkeiten» gegeben, aber an dessen
Seite er sich immer wieder «in militanten Projekten, insbesondere
die Situation der Immigranten betreffend», gefunden habe. Alain
Touraine nennt seinen verstorbenen Kollegen in «Libération»
eine «unabdingbare Referenz - im Guten oder im Schlechten»:
«Wie jeder echte Soziologe hat er stets Feldarbeit, Wissen,
Problemanalyse und Selbstreflexion verbunden.» Die alternative
Linke, vom Bauernführer José Bové über Mitglieder
der Organisation «Attac» bis zu Rony Brauman, dem früheren
Präsidenten von Médecins sans frontières, überbietet
sich in Lobeshymnen. Die Dichotomie zwischen dem Denker und dem Aktivisten
versucht Robert Maggiori in «Libération» mit einem
Bourdieu-Zitat zu überbrücken: «Wissenschaftliche
Arbeit gründet nicht auf zarten Empfindungen bons sentiments,
sondern auf Leidenschaften. Um zu arbeiten, muss man wütend sein.
Man muss auch arbeiten, um seine Wut zu kontrollieren.»
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