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  Pierre Bourdieu

 
   

sociologue énervant

 
   

 

Décès de Pierre Bourdieu :(
 

 
   

 


Pierre Bourdieu

 Der engagierte Soziologe.
 Zum Tod von Pierre Bourdieu.




Joseph Jurt, Neue Zürcher Zeitung AG, 24 Januar 2002.

 


 

P ierre Bourdieu, eine der herausragenden Figuren der zeitgenössischen Soziologie, ist am Abend des 23. Januar im Pariser Hôpital Saint-Antoine 71-jährig gestorben. Er war der weltweit am meisten zitierte französische Intellektuelle der Gegenwart, und er verkörperte wie kein Zweiter nach Sartre die spezifische Tradition des französischen Intellektuellen, die Zola mit seiner Stellungnahme für Dreyfus begründet hatte: den Intellektuellen, der zu den wichtigen Fragen des öffentlichen Lebens Stellung bezieht. Es waren nicht diese - umstrittenen - Interventionen allein, die seine Resonanz begründeten.

Pierre Bourdieu hat mit seinem eindrucksvollen Oeuvre, das mehr als dreissig Bücher umfasst, die Soziologie grundlegend erneuert. Das spezifische Profil dieses Werkes verdankt sich auch seinem Lebensweg, der nicht der eines klassischen Pariser Intellektuellen war.

Er stammte aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen. Er war am 1. August 1930 im kleinen Pyrenäenort Denguin zur Welt gekommen und verleugnete diese Ursprünge nie. Seine Philosophie-Ausbildung absolvierte er an einer der grossen Elite-Schulen Frankreichs, der Ecole Normale Supérieure, und er dachte zunächst daran, bei Canguilhem eine philosophische Dissertation zu schreiben, die Fragen der Phänomenologie und der Wissenschaftsgeschichte in Verbindung bringen sollte. Dazu kam es aber nicht. Er wurde 1955 zum Militärdienst nach Algerien einberufen und blieb dort nach 1958 noch zwei Jahre als Assistent an der Universität von Algier.

Algerien wurde für ihn zur entscheidenden Erfahrung. Hier «konvertierte» er von der Philosophie zur Ethnologie und damit auch zu den in der Disziplinenhierarchie niedriger eingestuften Sozialwissenschaften. Diesem Perspektivenwechsel verdanke er, so unterstrich er mehrmals im Gespräch, seine wesentlichen Einsichten. So legte er 1958 sein erstes Buch, «Sociologie de l'Algérie», vor, in dem es ihm darum ging, die naiven utopischen Vorstellungen, die Pariser Intellektuelle von der algerischen Gesellschaft hegten, zu differenzieren. Im algerischen Kontext entwickelte er seine Kritik am «Intellektualismus», an der naiven Vorstellung, die Sichtweise des Beobachters sei identisch mit derjenigen des Handelnden. Sein bleibendes Verdienst ist es, auf die spezifische Logik der Praxis hingewiesen zu haben, eine Einsicht, die er in seinem zentralen Werk, «Le sens pratique» (1980), systematisierte und die auch noch in seinen «Méditations pascaliennes» (1997) im Vordergrund stand, dem Werk, das im vergangenen Jahr als sein letztes ins Deutsche übertragen wurde. - In der traditionalen Gesellschaft der algerischen Kabylei entdeckte Bourdieu die relative Unabhängigkeit des Symbolischen gegenüber dem Ökonomischen. Seine Soziologie wurde so im Wesentlichen zu einer Soziologie der symbolischen Formen. Seine Werke galten nicht so sehr den klassischen sozialen Fragen, sondern diesem Bereich, der bis dato weniger in seiner sozialen Dimension untersucht worden war.

Die sozio-ethnologische Betrachtung Algeriens bestimmte seine Analyse der französischen Gegenwartsgesellschaft. Im Zentrum stand hier die Untersuchung der gesellschaftlichen Reproduktionsweise des Bildungssystems, der Universitäten und der Eliteschulen. Seit Mitte der sechziger Jahre stellte die Kultursoziologie im engeren Sinne einen Schwerpunkt seines Schaffens dar. Hier ging es ihm um die soziale Bedingtheit des Kulturkonsums am Beispiel der Photographie und des Museumsbesuches - ein Untersuchungsansatz, der in die grosse Studie «La distinction» (1979) mündete, die auf der Basis einer globalen Analyse der Gesellschaft aufzeigt, wie dem Konsum der Kulturgüter die Funktion sozialer Unterscheidung zukommt. Immer mehr versuchte Bourdieu aber, gerade die Literatur nicht nur als Kulturkonsum zu verstehen, sondern als ein eminentes Erkenntnisinstrument. Dieser Ansatz fand seinen Ausdruck in der Analyse des literarischen Feldes («Les règles de l'art», 1992), das gerade auch in Frankreich für die Literaturwissenschaft sehr anregend wirkte.

Ein grosses Echo fand die empirische Gemeinschaftsstudie «La misère du monde» (1993), in der er eine eigene Schreibweise entwickelte, um «Sprachlose» zu Wort kommen zu lassen. Seit Mitte der siebziger Jahre engagierte sich Bourdieu immer aktiver in sozialen Bewegungen und geisselte hier auch die intellektuelle Rechtfertigung der Globalisierung. Dieses Engagement trug ihm nicht wenig Feindschaft ein. Er verstand aber sein Eintreten für diese Sache nicht als das eines «Gutmenschen», sondern als Konsequenz der soziologischen Untersuchung der Ausgrenzung. Die Unbedingtheit seines Engagements liess den Siebzigjährigen, dem eine zynische Abgeklärtheit völlig abging, noch sehr jung erscheinen.


Arbeit an der Leidenschaft.

Marc Zitzmann, Neue Züricher Zeitung, 26.Januar 2002.

Französische Stimmen zum Tod von Pierre Bourdieu.

it jenem unnachahmlichen Gespür für griffige Formeln, das die Herolde des Staates entwickeln, wenn ein grosser Zeitgenosse stirbt, ist der am Mittwoch einem Krebsleiden erlegene Pierre Bourdieu in einer von Präsident Chirac unterzeichneten Würdigung ein «penseur militant et un militant de la pensée» genannt worden. In den Reaktionen und Artikeln zum Tod des französischen Soziologen indes wird der Denker nur en passant erwähnt; das Hauptaugenmerk gilt dem Aktivisten. «De mortuis nil nisi bene»: Hätte die Maxime Gesetzeskraft, müsste man schliessen, Bourdieu sei - angesichts der vielerorts zu vernehmenden geharnischten Kritiken - noch am Leben.

Die schneidendste Abrechnung legt der Leiter der Seiten «Pages et opinions» von «Le Figaro», Joseph Macé-Scaron, vor: Bourdieu werde in Erinnerung bleiben als «der Repräsentant der mythischen Figur des französischen Intellektuellen, die nicht mit der Dreyfus-Affäre entstanden ist . . ., sondern mit Molières Alceste. Eine Figur, die alle Doktrinen, alle Modelle, alle Systeme, alle Irrungen durchlaufen hat und sich bis heute schwer tut mit der Verteidigung des einzigen Gegenstandes, der diese Verteidigung verdient: des Menschen.» Kurz: «Der geistige Pate jener prä- oder a-marxistischen französischen Linken, jener archaischen Linken, deren Ikone die reichen Stunden der Französischen Revolution sind.» Der Soziologe Luc Boltanski schlägt, wiewohl respektvoller, in dieselbe Kerbe: «Die letzten zehn oder fünfzehn Jahre lasse ich ganz beiseite. Namentlich was Bourdieus Medienkritik angeht, hatte man es nicht mehr mit Soziologie zu tun, sondern mit Agitprop. . . . Wie im Fall des Lacanismus gab es um ihn eine kleine Gruppe selbst ernannter Gefolgsleute, die wie eine politische Sekte funktionierte.» Auch der Philosoph Pascal Bruckner verweist auf den «Widerspruch zwischen der Tatsache, dass Bourdieu der Schüler eines der nuanciertesten Denker gewesen ist, Raymond Aron, und dem Ende seiner Laufbahn in einer manichäischen Postur».

Dagegen die Freunde und Mitstreiter! Jacques Derrida preist in «Le Monde» den «alten Freund» und Mitstudenten, mit dem es «Debatten und Uneinigkeiten» gegeben, aber an dessen Seite er sich immer wieder «in militanten Projekten, insbesondere die Situation der Immigranten betreffend», gefunden habe. Alain Touraine nennt seinen verstorbenen Kollegen in «Libération» eine «unabdingbare Referenz - im Guten oder im Schlechten»: «Wie jeder echte Soziologe hat er stets Feldarbeit, Wissen, Problemanalyse und Selbstreflexion verbunden.» Die alternative Linke, vom Bauernführer José Bové über Mitglieder der Organisation «Attac» bis zu Rony Brauman, dem früheren Präsidenten von Médecins sans frontières, überbietet sich in Lobeshymnen. Die Dichotomie zwischen dem Denker und dem Aktivisten versucht Robert Maggiori in «Libération» mit einem Bourdieu-Zitat zu überbrücken: «Wissenschaftliche Arbeit gründet nicht auf zarten Empfindungen bons sentiments, sondern auf Leidenschaften. Um zu arbeiten, muss man wütend sein. Man muss auch arbeiten, um seine Wut zu kontrollieren.»
    


Pierre Bourdieu

       
 

   
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