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Frankreichs
großer Soziologe Pierre Bourdieu, zuletzt der Motor einer weltweiten
Bewegung gegen die Folgen neoliberalen Wirtschaftens, ist in Paris
gestorben.
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Frühjahr 2001 nahm Pierre Bourdieu vom Collège de France
mit einem Resümee seiner Lehrmeinungen Abschied. Er ärgerte
noch einmal die Kollegen Philosophen: Sie hätten ihre Führerschaft
in den Geisteswissenschaften an Soziologen seinesgleichen abgeben
müssen. Am Mittwoch abend ist der 71jährige in Paris einem
Krebsleiden erlegen.
Die europäische Linke hat einen weit über die Hörsäle
hinaus wirksamen Denker und Sprecher verloren. Bourdieu war ein Medienstar,
der 1995 vor streikenden Eisenbahnern flammende Reden hielt und transnationale
Agitations-Netzwerke in aller Welt knüpfte. Mit seiner Kontaktgruppe
Raisons d'agir gastierte er im November 2001 in Wien als Gast der
Regierungsgegner; im Künstlerhaus wetterte er gegen Instrumentarien
des von ihm bekämpfen Neoliberalismus (EU, Zentralbank), gegen
den Sozialabbau als Folge der Schwächung der Nationalstaaten,
gegen die Globalisierung.
Ein Dokumentarfilm, der den weltweit meistzitierten französischen
Wissenschaftler auf der Kinoleinwand zeigt, trägt den Titel "Die
Soziologie ist ein Kampfsport". Bourdieus Kritik fällt in letzter
Zeit auf immer fruchtbareren, und nicht nur linken, Boden. Obwohl
sein vorgedachtes Heilungsrezept, eine "Renaissance der europäischen
Aufklärung", kaum mehr ist als wohlige Bekenntnismusik.
Ein wissenschaftliches Lebensthema des aus den Pyrenäen gebürtigen
Beamtensohns, der seine Ausbildung an den Pariser Grand Ecoles genoß,
waren, mit einem herrschaftskritischen Affekt, die akademischen, intellektuellen,
politischen Eliten. Die Hauptakteure neoliberalen, globalen oder wenigstens
gesamteuropäischen Wirtschaftens und Gesetzgebens attackierte
er vorrangig ideologisch. Dabei sind seine epochemachenden Stärken
die Sammlung von Alltagsgeschichten ("La misère de monde",
1993), Geschlechterrollen ("La distinction", 1979, deutsch: "Der kleine
Unterschied", "La domination masculine", 1998), Machteliten ("Homo
academicus", 1984).
Bourdieu hat sich auch oft zu den Medien geäußert. Sie
reproduzieren die Ankündigungen der Mächtigen, sie fliegen
auf alles Neue und schieben Einwände gegen den zunehmend beschleunigten
Wandel als rückständig weg. 1999 fragte er, in Anwesenheit
von Chirac und Jospin, als Redner vor siebzig Machthabern über
internationale Medienkonzerne: "Wissen Sie wirklich, was Sie tun,
was Sie im Begriff sind, anzurichten?" Die "Herrschaft des Kommerziellen"
bedrohe "die besten Werke der Humanität, der Kunst, der Literatur
und selbst der Wissenschaft". Doch wollte er nicht Nationales gegen
Internationalität ausspielen: Es gehe "um den Kampf zwischen
einer kommerziellen Macht, die anstrebt, ihre kommerziellen Interessen
weltweit auszudehnen, und einem kulturellen Widerstand, basierend
auf der Verteidigung universeller Werke, die von der entnationalisierten
Internationale der Schöpferischen hervorgebracht wurden."
Bourdieu warf den Gewerkschaften vor, schon die Sprache der "ökonomischen
Orthodoxie" übernommen zu haben. Wo sie in Europa regiert, mache
die Linke die Politik der Rechten. Dagegen müsse ein neues "mouvement
social", eine "realistische Utopie" organisiert werden. Eine Voraussetzung:
die "Pflege des kulturellen Kapitals", also eine solide Bildungspolitik.
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