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Bourdieu erklärt am 4. Dezember auf einer großen Versammlung
von streikenden Eisenbahnern auf dem Gare de Lyon in Paris: »Ich
bin hier, um jene zu unterstützen, die seit drei Wochen gegen
die Zerstörung einer Zivilisation kämpfen.« Ja, der
Sozialwissenschaftler und europäische Intellektuelle hat keinerlei
Skrupel, den westeuropäischen Sozialstaat als eine zivilisatorische,
kulturelle Errungenschaft zu definieren, die gegen die neoliberale
Restauration verteidigt werden muss. Der Plan Juppé zur Sanierung
der Alterssicherung ist Ausdruck derselben konservativen Restauration
wie das Modell Tietmeyer. Der Bundesbankpräsident präsentiert
sich eben nicht nur in der deutschen Republik als »Hohepriester
der D-Mark«, sondern sein Denken ist zugleich die neoliberale
Bauzeichnung für die soziale Ordnung Europas. Selbstverständlich
geht es nicht darum, den Repräsentanten der neoliberalen Konterrevolution
ihre persönliche Integrität zu bestreiten. Bourdieu ist
sich sicher, »dass sie alle romantische Musik und expressionistische
Malerei mögen, und ohne dass ich irgendetwas über den Präsidenten
der Bundesbank wüsste, bin ich überzeugt, dass er wie der
Direktor unserer Nationalbank, Herr Trichet, in seinen freien Stunden
Gedichte liest und sich als Mäzen betätigt.« Aber
diese hochgeistigen Denker und Mäzene sind eben auch davon überzeugt,
dass die sozialen Interessen der Investoren und Aktionäre nicht
überleben, wenn man das bisherige Maß sozialer Sicherheit
fortschreibt. Wenn Bourdieu Tietmeyer zitiert – »Deshalb müssen
die öffentlichen Hauhalte unter Kontrolle gehalten werden und
das Steuer- und Abgabenniveau auf ein langfristig erträgliches
Niveau gesenkt, das soziale Sicherungssystem reformiert und die Starrheiten
des Arbeitmarktes abgebaut werden. Wir werden nur dann wieder eine
neue Wachstumphase erleben, wenn wir – dieses ›wir‹ ist herrlich –,
wenn wir auf dem Arbeitsmarkt eine Flexibilisierung vollbringen«
– dann steht diese Rhetorik für den Großteil des politischen
Spektrums. Tietmeyer ist der Prototyp für eine euphemistische
Rhetorik, die heute auf den Finanzmärkten hoch im Kurs steht.
Dieser Euphemismus ist das A und O des gegenwärtigen kapitalistischen
Systems – nötig, um zu vermeiden, dass sich bei den Arbeitern
und ArbeiterInnen Misstrauen und Verzweiflung breit machen. Bourdieu
fordert zum Widerstand, zur Rebellion gegen diese Logik heraus und
unterstützt die Widerstandsaktionen.
Selbstverständlich ist die Aufklärung das Metier der Intellektuellen.
Sie müssen das Gefühl analysieren und artikulieren, »dass
uns die Tradition der Aufklärung abhanden kommt. Diese Enteignung
und Zerstörung hängt mit einer Umkehrung der gesamten Weltsicht
zusammen, die durch die heute vorherrschende neoliberale Sicht der
Dinge durchgesetzt wurde. Bei der neoliberalen Revolution hier in
Deutschland kann ich diesen Vergleich bemühen, handelt es sich
doch um eine zutiefst konservative Revolution – in dem Sinne, wie
man in Deutschland der dreißiger Jahre von einer konservativen
Revolution sprach. Eine solche Revolution ist eine höchst seltsame
Angelegenheit: Sie setzt die Vergangenheit wieder in ihre Rechte und
gibt sich dabei als fortschrittlich aus, so dass diejenigen, die die
Rückkehr zu den alten Zuständen bekämpfen, selbst in
den Ruch kommen, von gestern zu sein. Das begegnet uns häufig,
wir werden ein ums andere Mal als ewig Gestrige behandelt. Man sagt
uns, wir hätten keinen Witz. Aber die Zeiten sind nicht witzig!
Es gibt nichts, über das man lachen könnte.« Die Zeiten
sind nicht witzig und doch gilt es, sich den Humor zu bewahren und
nicht zu verbittern.
Pierre Bourdieu, unser energischer Mitstreiter gegen die Zerstörung
von Vernunft und Aufklärung, der unermüdliche Vorkämpfer
für die Herausbildung des »kollektiven Intellektuellen«
ist tot. Pierre Bourdieu wurde am 1. August 1930 in Denguin, einem
kleinen Ort in den französischen Pyrenäen nahe der spanischen
Grenze, geboren, wo er auch den größten Teil seiner frühen
Jugend verbrachte. Nach seinem Studium an der Sorbonne und an der
École Normale Supérieure arbeitete er kurze Zeit als
Lehrer. Danach folgte eine Forschungsprofessur in Algier (1958-1960)
sowie eine Professur an der Sorbonne (1960-1961). Zu Beginn der 60er
Jahre kam Bourdieu an die École des Hautes Études en
Sciences Sociales, wo er zunächst als Assistent am Centre de
Sociologie Européenne tätig war. 1964 wurde er dort zum
Direktor ernannt. 1982 wurde Bourdieu auf den Lehrstuhl für Soziologie
am Collège de France berufen.
Bourdieu verarbeitete seine algerischen Erfahrungen in einem Buch
mit der Idee, die Realität dieses Landes und die tragische Situation
bekannt und begreifbar zu machen, in der die AlgerierInnen steckten
– aber nicht nur sie, sondern auch die Algerier-Franzosen, deren Lage
nicht minder dramatisch aussah, was immer über deren Rassismus
etc. zu sagen war. »Ich war betroffen über die Kluft zwischen
den Vorstellungen der französischen Intellektuellen von diesem
Krieg, davon, wie er zu beeenden sei, und meinen eigenen Eindrücken,
dem, was ich mit eigenen Augen sah: die Armee, die erbitterten pieds
noirs, dann alles weitere, Militärputsche, Auflehnung der Kolonisten,
der unvermeidliche Rekurs auf De Gaulle usw. Natürlich war ich
für die Aktionen einiger Intellektueller – ich denke an Sartre,
Jeanson, Vidal-Naquet – gegen Folter und für den Frieden, wollte
auf meine Art dazu beitragen. Dagegen beunruhigte mich der häufig
damit einher gehende Utopismus; meiner Meinung nach war es selbst
für ein unabhängiges Algerien nicht erstrebenswert, eine
mythische Sicht der algerischen Gesellschaft zu nähren.«
Diese zweispältige Sicht, was die Welt der Intellektuellen betrifft,
hat er sein ganzes weiteres Leben behalten. Rückblickend schreibt
er im November: »Ich habe mit der Soziologie begonnen, als ich
zum Wehrdienst in Algerien einberufen wurde, aus Gründen, die
man politisch nennen könnte. Ich wollte versuchen, den Franzosen
die Mittel bereitzustellen, um sich eine realistische Vorstellung
von der dortigen Situation zu machen. Damals habe ich erkannt, dass
die Dinge, die im Bereich der Politik diskutiert werden, nicht einfach
nur Gegenstand persönlicher Stellungnahmen sein dürfen.
Die Aufgabe besteht nicht einfach darin, Meinungen zu äußern,
seien sie auch edel und progressiv, sondern darin, ein möglichst
authentisches Bild der Realität zu liefern – und damit auch raisons
d’agir, Gründe zum Handeln. Ich habe also mit einer wissenschaftlichen
Arbeit begonnen, die kein Selbstzweck ist, sondern die ein politisches
Vakuum füllen soll, oder besser gesagt, ein Vakuum der politischen
Pädagogik. Dies ist aber etwas vollkommen anderes als ein vorgefertigtes
politisches Programm mit wissenschaftlichen Legitimationen auszustatten.«
Bourdieus Hauptaufmerksamkeit war auf die empirische Untersuchung
der wichtigsten gesellschaftlichen Felder (Räume) und auf die
Entwicklung einer Theorie des Feldes gerichtet. Er legte Untersuchungen
zum sozialen, literarischen, philosophischen, juristischen und politischen
Feld vor. Bestandteil dieses theoretischen Ansatzes ist die Überwindung
der theoretischen Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft.
Der Begriff des Habitus ist inkorporiertes und folglich individualisiertes
Soziales. Die Kenntnis von der Wechselbeziehung von Habitus und Feld
eröffnet die Möglichkeit, die symbolischen Formen zu erfassen
und damit die gesellschaftliche Kommunikation zu dechiffrieren und
zu beeinflussen. Die Studien über Sozialstruktur, Klassen, Alltagsverhalten
und Bewusstseinsformen sollen die sozialen Mechanismen bewusst machen.
Es können neue Aktionsformen entworfen werden, die einer neuartigen,
durch die Fortschritte der Sozialwissenschaften möglich gemachten
intellektuellen Arbeit zu voller Wirksamkeit verhelfen.
Die Zeit der Intellektuellen als Propheten und Träger von utopischen
Vorstellungen ist vorbei. Pierre Bourdieu forderte und arbeitete seit
langem an der Etablierung eines »kollektiven Intellektuellen«:
einer Organisation, die Spezialisten zusammenbringt, Ökonomen,
Soziologen, Ethnologen und Historiker, die dazu entschlossen sind,
ihre Kompetenzen vereint zur Verfügung zu stellen, um den BürgerInnen
sämtliche verfügbaren wissenschaftlichen Instrumente bereitzustellen,
um die Probleme der Aktualität – sei es in Afghanistan, Israel
oder im Irak – in ihrer Komplexität zu begreifen. Raison d’agir
steht wie das Projekt der europäischen Generalstände für
das Bemühen, Aufklärung durch einen kollektiven Intellektuellen
zu institutionalisieren und für eine Erneuerung der sozialen
Bewegungen inklusive der Gewerkschaften einzutreten. Es geht letztlich
um ein europaweites Projekt einer Linken der politischen Linken, die
aber ihre miserable marxistisch-leninistische Theorietradition, ihr
Halbwissen über gesellschaftliche Zustände und ihren Utopismus
abschüttelt.
Wir wissen, dass wir mit Pierre Bourdieu einen nicht zu ersetzenden
Mitstreiter in der Auseinandersetzung mit der neoliberalen Restauration,
der Zerstörung der Vernunft und der Erneuerung der sozialen Bewegung
verloren haben.
Wir sind uns aber auch sicher, dass wir in der Fortführung auch
seiner Anliegen einen Beitrag leisten können, seine Anstöße
und Leidenschaft in guter Erinnerung zu behalten.
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