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  Pierre Bourdieu

 
   

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Décès de Pierre Bourdieu :(
 

 
   

 


Pierre Bourdieu

 »Aber die Zeiten sind nicht witzig!«
 Zum Tod von Pierre Bourdieu.



Redaktion Sozialismus/VSA-Verlag, Hamburg, 25. Jänner 2002, online.

 


    

ierre Bourdieu erklärt am 4. Dezember auf einer großen Versammlung von streikenden Eisenbahnern auf dem Gare de Lyon in Paris: »Ich bin hier, um jene zu unterstützen, die seit drei Wochen gegen die Zerstörung einer Zivilisation kämpfen.« Ja, der Sozialwissenschaftler und europäische Intellektuelle hat keinerlei Skrupel, den westeuropäischen Sozialstaat als eine zivilisatorische, kulturelle Errungenschaft zu definieren, die gegen die neoliberale Restauration verteidigt werden muss. Der Plan Juppé zur Sanierung der Alterssicherung ist Ausdruck derselben konservativen Restauration wie das Modell Tietmeyer. Der Bundesbankpräsident präsentiert sich eben nicht nur in der deutschen Republik als »Hohepriester der D-Mark«, sondern sein Denken ist zugleich die neoliberale Bauzeichnung für die soziale Ordnung Europas. Selbstverständlich geht es nicht darum, den Repräsentanten der neoliberalen Konterrevolution ihre persönliche Integrität zu bestreiten. Bourdieu ist sich sicher, »dass sie alle romantische Musik und expressionistische Malerei mögen, und ohne dass ich irgendetwas über den Präsidenten der Bundesbank wüsste, bin ich überzeugt, dass er wie der Direktor unserer Nationalbank, Herr Trichet, in seinen freien Stunden Gedichte liest und sich als Mäzen betätigt.« Aber diese hochgeistigen Denker und Mäzene sind eben auch davon überzeugt, dass die sozialen Interessen der Investoren und Aktionäre nicht überleben, wenn man das bisherige Maß sozialer Sicherheit fortschreibt. Wenn Bourdieu Tietmeyer zitiert – »Deshalb müssen die öffentlichen Hauhalte unter Kontrolle gehalten werden und das Steuer- und Abgabenniveau auf ein langfristig erträgliches Niveau gesenkt, das soziale Sicherungssystem reformiert und die Starrheiten des Arbeitmarktes abgebaut werden. Wir werden nur dann wieder eine neue Wachstumphase erleben, wenn wir – dieses ›wir‹ ist herrlich –, wenn wir auf dem Arbeitsmarkt eine Flexibilisierung vollbringen« – dann steht diese Rhetorik für den Großteil des politischen Spektrums. Tietmeyer ist der Prototyp für eine euphemistische Rhetorik, die heute auf den Finanzmärkten hoch im Kurs steht. Dieser Euphemismus ist das A und O des gegenwärtigen kapitalistischen Systems – nötig, um zu vermeiden, dass sich bei den Arbeitern und ArbeiterInnen Misstrauen und Verzweiflung breit machen. Bourdieu fordert zum Widerstand, zur Rebellion gegen diese Logik heraus und unterstützt die Widerstandsaktionen.

Selbstverständlich ist die Aufklärung das Metier der Intellektuellen. Sie müssen das Gefühl analysieren und artikulieren, »dass uns die Tradition der Aufklärung abhanden kommt. Diese Enteignung und Zerstörung hängt mit einer Umkehrung der gesamten Weltsicht zusammen, die durch die heute vorherrschende neoliberale Sicht der Dinge durchgesetzt wurde. Bei der neoliberalen Revolution hier in Deutschland kann ich diesen Vergleich bemühen, handelt es sich doch um eine zutiefst konservative Revolution – in dem Sinne, wie man in Deutschland der dreißiger Jahre von einer konservativen Revolution sprach. Eine solche Revolution ist eine höchst seltsame Angelegenheit: Sie setzt die Vergangenheit wieder in ihre Rechte und gibt sich dabei als fortschrittlich aus, so dass diejenigen, die die Rückkehr zu den alten Zuständen bekämpfen, selbst in den Ruch kommen, von gestern zu sein. Das begegnet uns häufig, wir werden ein ums andere Mal als ewig Gestrige behandelt. Man sagt uns, wir hätten keinen Witz. Aber die Zeiten sind nicht witzig! Es gibt nichts, über das man lachen könnte.« Die Zeiten sind nicht witzig und doch gilt es, sich den Humor zu bewahren und nicht zu verbittern.

Pierre Bourdieu, unser energischer Mitstreiter gegen die Zerstörung von Vernunft und Aufklärung, der unermüdliche Vorkämpfer für die Herausbildung des »kollektiven Intellektuellen« ist tot. Pierre Bourdieu wurde am 1. August 1930 in Denguin, einem kleinen Ort in den französischen Pyrenäen nahe der spanischen Grenze, geboren, wo er auch den größten Teil seiner frühen Jugend verbrachte. Nach seinem Studium an der Sorbonne und an der École Normale Supérieure arbeitete er kurze Zeit als Lehrer. Danach folgte eine Forschungsprofessur in Algier (1958-1960) sowie eine Professur an der Sorbonne (1960-1961). Zu Beginn der 60er Jahre kam Bourdieu an die École des Hautes Études en Sciences Sociales, wo er zunächst als Assistent am Centre de Sociologie Européenne tätig war. 1964 wurde er dort zum Direktor ernannt. 1982 wurde Bourdieu auf den Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France berufen.

Bourdieu verarbeitete seine algerischen Erfahrungen in einem Buch mit der Idee, die Realität dieses Landes und die tragische Situation bekannt und begreifbar zu machen, in der die AlgerierInnen steckten – aber nicht nur sie, sondern auch die Algerier-Franzosen, deren Lage nicht minder dramatisch aussah, was immer über deren Rassismus etc. zu sagen war. »Ich war betroffen über die Kluft zwischen den Vorstellungen der französischen Intellektuellen von diesem Krieg, davon, wie er zu beeenden sei, und meinen eigenen Eindrücken, dem, was ich mit eigenen Augen sah: die Armee, die erbitterten pieds noirs, dann alles weitere, Militärputsche, Auflehnung der Kolonisten, der unvermeidliche Rekurs auf De Gaulle usw. Natürlich war ich für die Aktionen einiger Intellektueller – ich denke an Sartre, Jeanson, Vidal-Naquet – gegen Folter und für den Frieden, wollte auf meine Art dazu beitragen. Dagegen beunruhigte mich der häufig damit einher gehende Utopismus; meiner Meinung nach war es selbst für ein unabhängiges Algerien nicht erstrebenswert, eine mythische Sicht der algerischen Gesellschaft zu nähren.« Diese zweispältige Sicht, was die Welt der Intellektuellen betrifft, hat er sein ganzes weiteres Leben behalten. Rückblickend schreibt er im November: »Ich habe mit der Soziologie begonnen, als ich zum Wehrdienst in Algerien einberufen wurde, aus Gründen, die man politisch nennen könnte. Ich wollte versuchen, den Franzosen die Mittel bereitzustellen, um sich eine realistische Vorstellung von der dortigen Situation zu machen. Damals habe ich erkannt, dass die Dinge, die im Bereich der Politik diskutiert werden, nicht einfach nur Gegenstand persönlicher Stellungnahmen sein dürfen. Die Aufgabe besteht nicht einfach darin, Meinungen zu äußern, seien sie auch edel und progressiv, sondern darin, ein möglichst authentisches Bild der Realität zu liefern – und damit auch raisons d’agir, Gründe zum Handeln. Ich habe also mit einer wissenschaftlichen Arbeit begonnen, die kein Selbstzweck ist, sondern die ein politisches Vakuum füllen soll, oder besser gesagt, ein Vakuum der politischen Pädagogik. Dies ist aber etwas vollkommen anderes als ein vorgefertigtes politisches Programm mit wissenschaftlichen Legitimationen auszustatten.«

Bourdieus Hauptaufmerksamkeit war auf die empirische Untersuchung der wichtigsten gesellschaftlichen Felder (Räume) und auf die Entwicklung einer Theorie des Feldes gerichtet. Er legte Untersuchungen zum sozialen, literarischen, philosophischen, juristischen und politischen Feld vor. Bestandteil dieses theoretischen Ansatzes ist die Überwindung der theoretischen Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft. Der Begriff des Habitus ist inkorporiertes und folglich individualisiertes Soziales. Die Kenntnis von der Wechselbeziehung von Habitus und Feld eröffnet die Möglichkeit, die symbolischen Formen zu erfassen und damit die gesellschaftliche Kommunikation zu dechiffrieren und zu beeinflussen. Die Studien über Sozialstruktur, Klassen, Alltagsverhalten und Bewusstseinsformen sollen die sozialen Mechanismen bewusst machen. Es können neue Aktionsformen entworfen werden, die einer neuartigen, durch die Fortschritte der Sozialwissenschaften möglich gemachten intellektuellen Arbeit zu voller Wirksamkeit verhelfen.

Die Zeit der Intellektuellen als Propheten und Träger von utopischen Vorstellungen ist vorbei. Pierre Bourdieu forderte und arbeitete seit langem an der Etablierung eines »kollektiven Intellektuellen«: einer Organisation, die Spezialisten zusammenbringt, Ökonomen, Soziologen, Ethnologen und Historiker, die dazu entschlossen sind, ihre Kompetenzen vereint zur Verfügung zu stellen, um den BürgerInnen sämtliche verfügbaren wissenschaftlichen Instrumente bereitzustellen, um die Probleme der Aktualität – sei es in Afghanistan, Israel oder im Irak – in ihrer Komplexität zu begreifen. Raison d’agir steht wie das Projekt der europäischen Generalstände für das Bemühen, Aufklärung durch einen kollektiven Intellektuellen zu institutionalisieren und für eine Erneuerung der sozialen Bewegungen inklusive der Gewerkschaften einzutreten. Es geht letztlich um ein europaweites Projekt einer Linken der politischen Linken, die aber ihre miserable marxistisch-leninistische Theorietradition, ihr Halbwissen über gesellschaftliche Zustände und ihren Utopismus abschüttelt.

Wir wissen, dass wir mit Pierre Bourdieu einen nicht zu ersetzenden Mitstreiter in der Auseinandersetzung mit der neoliberalen Restauration, der Zerstörung der Vernunft und der Erneuerung der sozialen Bewegung verloren haben.

Wir sind uns aber auch sicher, dass wir in der Fortführung auch seiner Anliegen einen Beitrag leisten können, seine Anstöße und Leidenschaft in guter Erinnerung zu behalten.
   


Pierre Bourdieu

       
 

   
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