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man in Deutschland Ende der 60er Jahre neugierig nach Paris blickte,
um unter den französischen Intellektuellen Korrespondenzen zu
Horkheimer und Adorno, Marcuse und Habermas ausfindig zu machen, wurden
die Namen Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes,
Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu
präsentiert. Die meisten aus dieser Gelehrtenschar leben heute
nicht mehr, so dass Pariser Zeitungen schon nostalgische Töne
anstimmten, als vor einigen Jahren die Lacan-Biografie von Elisabeth
Roudinesco noch einmal die heroischen Zeiten jener französischen
Meisterdenker beschwor, die sich um das magische Datum des Mai 1968
gruppierten. Am Mittwoch Abend ist als einer der letzten großen
Geistesmusketiere in einem Pariser Krankenhaus im Alter von 71 Jahren
auch der Soziologe Pierre Bourdieu an einer Krebserkrankung gestorben.
Bourdieu wurde am 1. August 1930 in einem kleinen Ort in den französischen
Pyrenäen geboren. Nach einem Studium der Philosophie und Ethnologie
an den renommierten Pariser Elite-Hochschulen arbeitete er zunächst
kurze Zeit als Lehrer, schlug dann aber eine akademische Laufbahn
ein. Sie wurde schließlich 1982 mit der Aufnahme ins Allerheiligste
der französischen Akademikerelite gekrönt: Der Berufung
ans Collège de France, wo Bourdieu den Lehrstuhl für Soziologie
erhielt. Die entscheidende Etappe bei dieser Karriere war ein Forschungsaufenthalt
in Algerien von 1958 bis 1960, wo Bourdieu Studien über das Berbervolk
der Kabylen betrieb und dabei allmählich seinen eigenen theoretischen
Ansatz entwickelte.
Die Soziologie war ja im 20. Jahrhundert ein noch junges Fach und
bildete in den verschiedenen Ländern Europas und Nordamerikas
jeweils eigene nationale Traditionen und Schulen. In Frankreich entwickelte
sie sich aus der Ethnologie heraus. Emile Durkheim, Marcel Mauss und
Claude Lévi-Strauss waren hier die Gründerfiguren. Moderne
Gesellschaften gehorchen ähnlichen Strukturprinzipien, wie sie
sich auch schon in archaischen Gesellschaften aufspüren lassen,
lautete das Credo dieser Schule.
Bourdieu begann seine Arbeit in Algerien in dieser Tradition des ethnologischen
Strukturalismus. Doch dann begann er diesen Ansatz schrittweise zu
revidieren und seine eigene Konzeption zu entwickeln. Dem "Objektivismus"
der Strukturalisten hielt er die Beobachtung entgegen, dass die handelnden
Personen in einer Gesellschaft zwar einem bestimmten Regelwerk folgen,
aber gleichzeitig in der praktischen Anwendung dieser Regeln auch
einen eigenen Handlungsspielraum entwickeln.
Damit war freilich keine Rückkehr zu jener Theorie der absoluten
subjektiven Freiheit gemeint, wie sie der Existenzialist Sartre vertreten
hatte, gegen den der Strukturalismus einst zu Felde gezogen war. Bourdieu
zielte mit seinen Kategorien der Kultursoziologie vielmehr auf einen
dritten Weg, der die Alternative zwischen einem strukturalistischen
Objektivismus und einem existenzialistischen Subjektivismus unterlaufen
sollte. Der Soziologe muss über eine doppelte Perspektive verfügen:
über ein profundes Insiderwissen aus der Sicht der handelnden
Personen und über den distanzierten Blick von außen. Einige
dieser kultursoziologischen Kategorien wie "sozialer Habitus", "soziales
Feld", "symbolisches Kapital" oder "Distinktionsgewinn" sind inzwischen
so sehr ins Allgemeinbewusstsein eingesickert, dass niemand mehr weiß,
wer sie eigentlich erfunden hat. Aber vielleicht ist ja gerade das
ein Indiz dafür, dass die Theorie, der sie entstammen, inzwischen
einen klassischen Status erreicht hat.
Unter "Habitus" versteht Bourdieu jene Fähigkeiten, Gewohnheiten,
Einstellungen und Überzeugungen, über welche die Mitglieder
einer Gesellschaft gleichsam automatisch verfügen, weil sie ihnen
zur zweiten Natur geworden sind. "Bildung" meint, so gesehen, nicht
das bewusst angeeignete Wissen, sondern umfasst jene Reaktionsweisen,
Geschmacksurteile und Lebensstile, die wir uns seit unserer frühesten
Kindheit einverleibt haben. Welchen Wein man zu welchem Gericht trinkt,
wie man sich bei einer Einladung anzieht, welche Musik man hört
- all das macht den sozialen Habitus einer Person aus.
Diese Haltungen kann man sich nicht im Schnellkurs aneignen, sie müssen
einem so in Fleisch und Blut übergegangen sein, dass sie jederzeit
automatisch abgerufen werden können. Man müsse davon ausgehen,
sagt Bourdieu, dass wir "in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten
sind".
Wenn Bildung und Kultur auf derart einverleibten Fähigkeiten
beruhen, dann ist freilich die liberale Parole von der Chancengleichheit
im Bildungssystem pure Fiktion, behauptet Bourdieu. Auf allen "sozialen
Feldern" finden nämlich heftige Klassenkämpfe statt, bei
denen sich die Eliten gerade durch ihren spezifischen Habitus von
den sozialen Aufsteigern abgrenzen.
Bourdieu versucht also, die Marx'sche Theorie vom Klassenkampf, die
im ökonomischen Bereich allen Kredit verloren hat, auf einen
zeitgemäßeren Stand zu bringen. Der Kampf um soziale Anerkennung
vollzieht sich als Kampf um die Anhäufung von Prestige. Dieses
"symbolische Kapital" setzt sich zusammen aus dem ökonomischen
Kapital, also dem materiellen Besitz, dem kulturellen Kapital, also
den erworbenen Kulturtechniken und dem sozialen Kapital, also dem
Netzwerk der sozialen Beziehungen, über die jemand verfügt.
In seinem vielleicht bekanntesten Werk, dem 1979 erschienen Buch "Die
feinen Unterschiede", hat Bourdieu die Strategien zur Anhäufung
von symbolischem Kapital, ausführlich beschrieben. Es geht dabei
immer um die Unterschiede in den Lebensstilen, durch die man sich
von anderen abgrenzt und damit einen "Distinktionsgewinn" erzielt.
Dabei gibt es bei diesen Machtspielen keine neutrale Position, weil
die Festlegung dessen, was als fein, elitär oder snobistisch
zu gelten hat, immer selbst Gegenstand des Streits ist. Mit diesem
kultursoziologischen Instrumentarium hat Bourdieu die Lebensstilforschung
nachhaltig beeinflusst - auch dort noch, wo die Markt- und Trendforscher
jene kritische Intention preisgegeben haben, die hinter Bourdieus
Theorie steht.
Scharfsinnige Beobachter haben schon immer auf das Paradox hingewiesen,
dass der Kritiker der Machtkämpfe um die feinen Unterschiede
selbst ein Sprössling jenes elitären französischen
Bildungssystems ist, das er analysiert. Und sie wenden gegen Bourdieu
ein, dass der globale Kapitalismus nicht mehr nach jenen Besonderheiten
der nationalen Kulturen frage, die erst den Rahmen für eine Hierarchie
der feinen Unterschiede abgeben. Das globale Kapital ist kulturell
neutral. Bill Gates mag nach den Kriterien der französischen
Elite ein Banause sein, ist aber trotzdem einer der reichsten und
einflussreichsten Männer der Welt. Bourdieus Kontrahenten werfen
ihm also einen latenten Kulturkonservativismus vor und fühlen
sich in diesem Urteil durch die vehemente Kritik bestätigt, die
der französische Soziologe an der Globalisierung im Zeichen des
Neoliberalismus geübt hat.
Auch gegenüber der europäischen Währungsunion war Bourdieu
skeptisch, weil er darin eine Vorherrschaft der Ökonomie über
das politische Prinzip der Volkssouveränität erblickte.
Hatte Bourdieu seine akademische Laufbahn einst damit begonnen, dass
er dem "engagierten Intellektuellen" vom Typus Sartres die solide
wissenschaftliche Forschung entgegenstellte, so wurde er im vergangenen
Jahrzehnt selbst zu jemandem, der sich zu allen möglichen politischen
Themen äußerte. Doch sowohl in der einen wie in der anderen
Rolle war er ein herausragender Repräsentant des klassischen
französischen Bildungsbürgertums, dessen Stimme man ab heute
vermissen wird.
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