Maison Écrivez-nous !  

Société

Textes

Images

Musiques

  Pierre Bourdieu

 
   

sociologue énervant

 
   

 

Décès de Pierre Bourdieu :(
 

 
   

 


Pierre Bourdieu

 Die Kränkung und der böse Blick.



Matthias Kamann, Die Welt, 25/01/02.

 


  

Den westlichen Gesellschaften auf die Nerven gehen: Zum Tod des französischen Soziologen und Star-Intellektuellen Pierre Bourdieu.

Ein 71-Jähriger ist nicht jung. Dennoch: Dieser Tod kommt viel zu früh. Wer könnte sie denn übernehmen, die Rolle des linken Star-Intellektuellen, ja, der gedankenscharfen Nervensäge, die in allen Medien zu allem etwas zu sagen hat? Es ist nicht pietätlos, den französischen Soziologen Pierre Bourdieu so zu nennen. Er hat es selbst als seine Aufgabe gesehen, den westlichen Gesellschaften auf die schlaffen Nerven zu gehen.

In einem Gespräch mit Hans Haacke erklärte er: "Nach dem, was Zola uns vorgelebt hat, sollen wir uns in die Politik einmischen. Und wir sind umso mehr gefordert, in die Welt der Mächtigen, der Geschäfts- und Geldleute einzugreifen, als sie immer häufiger und immer effektiver in unsere Welt eingreifen." Da sind die, hier sind wir.

Bourdieu sah sich in der klassischen Rolle des Anwalts der kleinen Leute gegenüber den großen Herren, gab dieser Rolle aber höchst charakteristische Wendungen. Nämlich, die oberen Schichten nicht nur zu attackieren - zumal in den letzten Jahren seines nicht immer glücklichen Engagements gegen die Globalisierung - sondern die Herrschenden auch genauestens zu beobachten. Und zugleich sah er es als seine Pflicht an, den Kleinen eine Stimme geben.

Am eindrucksvollsten gelang ihm dies 1993 mit der Herausgabe des 900-Seiten-Bandes "Das Elend der Welt" (UVK Soziologie). Dieser Bestseller enthält meist in Gesprächsform aufgezeichnete Lebensschicksale von Menschen, die unter den Bedingungen des freien Marktes leben. Man muss kein Antikapitalist sein, um von all den hier erzählten Anstrengungen tief berührt zu werden, derer es bedarf, um auf dem freien Markt über die Runden zu kommen. Und fast ergreifend ist es zu lesen, wie Bourdieu diese Gespräche den Menschen als Hilfe anbietet, sich über ihre Situation klar zu werden, sie zu meistern.

Weniger anrührend, dafür aber in Frankreich mit seiner Tradition der politischen Rhetorik umso wirkungsvoller waren Bourdieus öffentliche Auftritte, mit denen er die Partei der kleinen Leute zu ergreifen versuchte. Etwa bei seiner Rede im französischen Streikwinter 1995, als er mit allem Pathos alter revolutionärer Zeiten vor Eisenbahnern die "Staatsaristokratie" geißelte, die sich das gesellschaftliche Vermögen unter den Nagel zu reißen versuche. Im April 2000 ging er so weit, die Einberufung der europäischen Generalstände zu fordern. Die sollten eine Charta ausarbeiten, "die alle möglichen organisatorischen und intellektuellen Formen des Widerstands gegen die neoliberale Politik bündelt". Wer vermag so noch zu reden?

Und wer schildert nun mit so bösem Blick die Rituale und Verhaltensmuster, mit denen die Mandarine der Gesellschaft ihre Macht festigen? Es war Bourdieu, der uns die Augen dafür öffnete, dass dickbäuchiges Protzen abgedankt hat, dass es vielmehr die "Verfeinerung der symbolischen Strategien" ist, was Herrschaft sichert: "Im 19. Jahrhundert konnten Künstler wie Baudelaire und Flaubert in Opposition zu den ‚Bourgeois' stehen, die als Banausen, als dümmliche Philister gelten. Heute sind die Unternehmer oft Leute mit einem anspruchsvollen Geschmack, zumindest auf dem Gebiet der sozialen Manipulationsstrategien, jedoch auch in der Kunst."

Oft erkennt man in Bourdieus Analyse sozialer Distinktionsstrategien eine tiefe Verletztheit. Als kämpfe er unablässig mit der Frage: Wie ist es möglich, dass meine Feinde genauso gebildet und stilsicher sind wie ich und meine Freunde? Wie kann es sein, dass sie weit angenehmer sind als die armen kleinen Leuten, denen mein Herz gehört?

Dass Bourdieu bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen zum großen Analytiker des Spätkapitalismus und seiner neuen Mechanismen wurde, hat mit seiner Biografie zu tun. Aus der Klärung persönlicher Erfahrungen machte er ein Lebenswerk. 1930 wurde er in der tiefsten Provinz geboren, im kleinen Ort Denguin im Départment Pyrénées Atlantiques. Von dort arbeitete sich der Hochbegabte - nach einer Assistentenzeit in Algier zwischen 1958 und 1960 - beharrlich in die höchsten akademischen Zirkel von Paris vor, bis er 1981 Soziologie-Professor am Collège de France wurde.

Auf diesem Weg musste er oft leidvoll er erfahren, was zur Herrschaft benötigt wird, gerade in akademischen Kreisen - und was ihm lange fehlte: feine spitze Schuhe, eine Vorliebe für Gershwin. Ganzen Generationen von Akademikern führten seine Bücher "Homo academicus" von 1984 und "Die feinen Unterschiede" von 1979 (beide Suhrkamp) vor Augen, was sie tun, wenn sie Wein statt Bier trinken oder sich Ausstellungsplakate in die Wohnungen hängen: Sie inszenieren soziale Kodizes, die ihnen eine gute Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie verschaffen.

All diese Beobachtungen Bourdieus sind nicht vorstellbar ohne tiefe eigene Erfahrung und die Bereitschaft, sich ihr zu stellen. Dass in solchem Erspüren des Erfühlten sein Denken gründete, zeigt sich auch in der großen Bedeutung, die Bourdieu inneren Stimmungen gab. Explizit beschrieb er sie in seinen im letzten Jahr erschienenen "Meditationen" über Blaise Pascal und die müßige Versenkung ins Ich (Suhrkamp). Zu finden aber ist diese Annahme innerer Stimmungen auch in vielen vermeintlich bloß soziologischen Studien, deren beeindruckende Reihe das oft übersehene Fundament seiner spektakulären Wortmeldungen bildet.

Schon in seinem ersten Buch "Die zwei Gesichter der Arbeit" (Universitätsverlag Konstanz) über algerische Arbeiter und Bauern finden sich die Zeilen: "Morgen wartet das Grab: die Zukunft ist ein Nichts, und es wäre eitel, es erfassen zu wollen, ein Nichts, das uns nicht gehört." Gestern ist Pierre Bourdieu in Paris gestorben.
  
 


Pierre Bourdieu

       
 

   
maison   société   textes   images   musiques