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Den
westlichen Gesellschaften auf die Nerven gehen: Zum Tod des französischen
Soziologen und Star-Intellektuellen Pierre Bourdieu.
in
71-Jähriger ist nicht jung. Dennoch: Dieser Tod kommt viel
zu früh. Wer könnte sie denn übernehmen, die Rolle
des linken Star-Intellektuellen, ja, der gedankenscharfen Nervensäge,
die in allen Medien zu allem etwas zu sagen hat? Es ist nicht pietätlos,
den französischen Soziologen Pierre Bourdieu so zu nennen. Er
hat es selbst als seine Aufgabe gesehen, den westlichen Gesellschaften
auf die schlaffen Nerven zu gehen.
In einem Gespräch mit Hans Haacke erklärte er: "Nach
dem, was Zola uns vorgelebt hat, sollen wir uns in die Politik einmischen.
Und wir sind umso mehr gefordert, in die Welt der Mächtigen,
der Geschäfts- und Geldleute einzugreifen, als sie immer häufiger
und immer effektiver in unsere Welt eingreifen." Da sind die,
hier sind wir.
Bourdieu sah sich in der klassischen Rolle des Anwalts der kleinen
Leute gegenüber den großen Herren, gab dieser Rolle aber
höchst charakteristische Wendungen. Nämlich, die oberen
Schichten nicht nur zu attackieren - zumal in den letzten
Jahren seines nicht immer glücklichen Engagements gegen die Globalisierung - sondern
die Herrschenden auch genauestens zu beobachten. Und zugleich sah
er es als seine Pflicht an, den Kleinen eine Stimme geben.
Am eindrucksvollsten gelang ihm dies 1993 mit der Herausgabe des 900-Seiten-Bandes
"Das Elend der Welt" (UVK Soziologie). Dieser Bestseller enthält
meist in Gesprächsform aufgezeichnete Lebensschicksale von Menschen,
die unter den Bedingungen des freien Marktes leben. Man muss kein
Antikapitalist sein, um von all den hier erzählten Anstrengungen
tief berührt zu werden, derer es bedarf, um auf dem freien Markt
über die Runden zu kommen. Und fast ergreifend ist es zu lesen,
wie Bourdieu diese Gespräche den Menschen als Hilfe anbietet,
sich über ihre Situation klar zu werden, sie zu meistern.
Weniger anrührend, dafür aber in Frankreich mit seiner Tradition
der politischen Rhetorik umso wirkungsvoller waren Bourdieus öffentliche
Auftritte, mit denen er die Partei der kleinen Leute zu ergreifen
versuchte. Etwa bei seiner Rede im französischen Streikwinter
1995, als er mit allem Pathos alter revolutionärer Zeiten vor
Eisenbahnern die "Staatsaristokratie" geißelte, die sich das
gesellschaftliche Vermögen unter den Nagel zu reißen versuche.
Im April 2000 ging er so weit, die Einberufung der europäischen
Generalstände zu fordern. Die sollten eine Charta ausarbeiten,
"die alle möglichen organisatorischen und intellektuellen
Formen des Widerstands gegen die neoliberale Politik bündelt".
Wer vermag so noch zu reden?
Und wer schildert nun mit so bösem Blick die Rituale und Verhaltensmuster,
mit denen die Mandarine der Gesellschaft ihre Macht festigen? Es war
Bourdieu, der uns die Augen dafür öffnete, dass dickbäuchiges
Protzen abgedankt hat, dass es vielmehr die "Verfeinerung der symbolischen
Strategien" ist, was Herrschaft sichert: "Im 19. Jahrhundert
konnten Künstler wie Baudelaire und Flaubert in Opposition zu
den ‚Bourgeois' stehen, die als Banausen, als dümmliche Philister
gelten. Heute sind die Unternehmer oft Leute mit einem anspruchsvollen
Geschmack, zumindest auf dem Gebiet der sozialen Manipulationsstrategien,
jedoch auch in der Kunst."
Oft erkennt man in Bourdieus Analyse sozialer Distinktionsstrategien
eine tiefe Verletztheit. Als kämpfe er unablässig mit der
Frage: Wie ist es möglich, dass meine Feinde genauso gebildet
und stilsicher sind wie ich und meine Freunde? Wie kann es sein, dass
sie weit angenehmer sind als die armen kleinen Leuten, denen mein
Herz gehört?
Dass Bourdieu bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen zum großen
Analytiker des Spätkapitalismus und seiner neuen Mechanismen
wurde, hat mit seiner Biografie zu tun. Aus der Klärung persönlicher
Erfahrungen machte er ein Lebenswerk. 1930 wurde er in der tiefsten
Provinz geboren, im kleinen Ort Denguin im Départment Pyrénées
Atlantiques. Von dort arbeitete sich der Hochbegabte - nach
einer Assistentenzeit in Algier zwischen 1958 und 1960 - beharrlich
in die höchsten akademischen Zirkel von Paris vor, bis er 1981
Soziologie-Professor am Collège de France wurde.
Auf diesem Weg musste er oft leidvoll er erfahren, was zur Herrschaft
benötigt wird, gerade in akademischen Kreisen - und
was ihm lange fehlte: feine spitze Schuhe, eine Vorliebe für
Gershwin. Ganzen Generationen von Akademikern führten seine Bücher
"Homo academicus" von 1984 und "Die feinen Unterschiede"
von 1979 (beide Suhrkamp) vor Augen, was sie tun, wenn sie Wein statt
Bier trinken oder sich Ausstellungsplakate in die Wohnungen hängen: Sie
inszenieren soziale Kodizes, die ihnen eine gute Stellung in der gesellschaftlichen
Hierarchie verschaffen.
All diese Beobachtungen Bourdieus sind nicht vorstellbar ohne tiefe
eigene Erfahrung und die Bereitschaft, sich ihr zu stellen. Dass in
solchem Erspüren des Erfühlten sein Denken gründete,
zeigt sich auch in der großen Bedeutung, die Bourdieu inneren
Stimmungen gab. Explizit beschrieb er sie in seinen im letzten Jahr
erschienenen "Meditationen" über Blaise Pascal und die müßige
Versenkung ins Ich (Suhrkamp). Zu finden aber ist diese Annahme innerer
Stimmungen auch in vielen vermeintlich bloß soziologischen Studien,
deren beeindruckende Reihe das oft übersehene Fundament seiner
spektakulären Wortmeldungen bildet.
Schon in seinem ersten Buch "Die zwei Gesichter der Arbeit"
(Universitätsverlag Konstanz) über algerische Arbeiter und
Bauern finden sich die Zeilen: "Morgen wartet das Grab: die
Zukunft ist ein Nichts, und es wäre eitel, es erfassen zu wollen,
ein Nichts, das uns nicht gehört." Gestern ist Pierre Bourdieu
in Paris gestorben.
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