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  Pierre Bourdieu

 
   

sociologue énervant

 
   

 

Décès de Pierre Bourdieu :(
 

 
   

 


Pierre Bourdieu

 Wie ein Buch handeln kann.
 Zum Tod des französischen Soziologen Pierre Bourdieu
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Elisabeth von Thadden, DIE ZEIT, Literatur 06/2002, 30/01/2002.

 


  

Eine junge Nachtarbeiterin bei der Post, Danielle, ist dem Soziologen besonders in Erinnerung geblieben. Ihr hatte er, neben ungezählten anderen, in seinem Gesellschaftsporträt La misère du monde (Das Elend der Welt, deutsch 1997) das Wort erteilt, hatte sich von den Widrigkeiten des Lebens berichten lassen: Danielle, Tochter verarmter Winzer aus Südfrankreich, war nach Paris gezogen, um dort Arbeit zu finden. Sortierte fortan des Nachts Stapel von Briefen, am Band und im Stehen, kam morgens nach Haus, wenn ihr Mann Serge zur Arbeit aufbrach, sah die Sonne nur selten, wollte unbedingt die Kollegen am Band für eine Art Dorfgemeinschaft halten und sammelte Urlaubstage für die seltene Heimreise nach Süden.

Die Erinnerung an Danielle, von der Frankreichs be-rühmtester Soziologe Pierre Bourdieu erzählte, galt auch der sozialen Verwandten, der Zugereisten, der Aufgestiegenen. Monter à Paris (hinauf nach Paris steigen), sagt die französische Redensart für den Weg in die Hauptstadt und meint die Reise wie die Ochsentour derer, die aller Mühen und Zertifikate zum Trotz nie ganz ankommen werden.

Ein Zugereister, geboren 1930 als Sohn kleiner Beamter im südfranzösischen Dorf Denguin, war und blieb auch Bourdieu, noch als er längst auf dem intellektuellen Olymp residierte, im Pariser Collège de France, am sanft ansteigenden Hügel der Montagne Sainte Geneviève, wo er seit 1981 den Lehrstuhl für Soziologie innehatte. Auf dem Weg vom Elitegymnasium Louis le Grand über die Elitehochschule École Normale Supérieure und verschiedene Lehrstühle und Dozenturen war der gelernte Philosoph auch zum Künstler der Distanz geworden, auffällig bescheiden, nervös und eitel zugleich. "Das öffentliche Leben in Paris funktioniert ja nur nach dem Kriterium ,chic oder nicht chic'", sagte er zornig gegen die traditionellen Pariser Eliten und meinte jene "liberalen Denker", die "mit flotten Sprüchen über die soziale Misere in unseren Gesellschaften" hinweggingen.

Er musste es wissen: Diese Eliten, die Biografien der Intellektuellen, die Kultur - und Bildungssoziologie hatte er zu einem Hauptgegenstand seiner Forschung gemacht - von den Feinen Unterschieden (1979) über den Homo academicus (1984) bis zum Staatsadel (1989). Und Bourdieu griff diese Eliten an, als sei es nicht ebenso charakteristisch für das Pariser Milieu, dass führende Köpfe wie Jacques Derrida oder Emmanuel Lévinas auch dazuzählten, ohne ganz dazuzugehören - darin Bourdieu ähnlich, feine Unterschiede hin oder her.

Seit Bourdieus wissenschaftlichen Anfängen - der ethnologischen Studie über die algerischen Kabylen, welche die Franzosen mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überzogen hatten - hat Bourdieu, der Junge aus der Provinz, die Frage nach dem kulturellen und ökonomischen Anpassungszwang nicht mehr verlassen, der von Metropolen wie Paris in alle Welt ausging. Anders gesagt: Die Frage nach den Verlierern und Verlusten der Modernisierung wurde zu einem Antrieb seiner immer empirisch orientierten Soziologie und später zum Leitmotiv seines politischen Handelns.

Den Feinen Unterschieden galt eines seiner wissenschaftlichen Hauptwerke: den Unterschieden des Geschmacks, der Sitten, der Vorlieben, der Bildung, an denen zu erkennen ist, aus welchem Stall einer kommt. Egal, wie begabt er ist. Egal, ob er wie Bourdieu von unten in die Zentren der Macht gelangt, ob er die verschwiegene Ungerechtigkeit seiner Kultur zum Thema eines Lebenswerks von Weltgeltung macht - die kulturellen Mechanismen des Ausschlusses erforschend, die subtilen Herrschaftsformen der Gebildeten benennend, als wäre er, der alle glänzenden Zertifikate erwarb, dadurch umso mehr vom Drang nach Gerechtigkeit getrieben.

Als Bourdieu vor ein paar Jahren gebeten wurde, seine Erinnerungen an das Kriegsende festzuhalten, da schrieb er, zu seinem Erstaunen habe er keine; er erinnere sich nur diffus an das in Ängste und Schamgefühl eingesperrte Kind, das er als Internatsschüler fern von zu Hause war; die persönliche Geschichte beschrieb Bourdieu hier als Gefängnis, aus dem jeder entlassen werden muss, wenn er die große Geschichte wahrnehmen können soll und an ihr partizipieren. Und er schrieb - eine Seltenheit in seinem sprachlich schwarzbrotähnlichen Werk - in Bildern, die zum Verfilmen anschaulich sind: wie er ausgehungert ein vom Irrtum beschertes rohes Schnitzel verschlingt; wie ihn hinter der nicht verschließbaren Tür des Plumpsklos im Schulhof das Gefühl der Schutzlosigkeit packt und ihn sonntags in der menschenleeren Schule die Erleichterung umfängt, allein sein zu dürfen. Mit einem Buch.

Der Soziologe, den stets am meisten interessiert hatte, wie Individualität und kollektive Muster zusammenhängen, der den Begriff des Habitus neu prägte, nämlich als buchstäbliche Verkörperung eines kulturellen Status durch eine Person, dieser Soziologe wandte sich Ende der achtziger Jahre den Individuen als Einzelfällen zu: in den Recherchen zum Elend der Welt. Und holte dabei im Gespräch mit seinen Interviewpartnern auch eine hermeneutische Schulung im Verstehen nach, die ihm, dem Theoretiker der Macht, in seinen Analysen der Kunst zumeist fehlte. Für die befreiende Kraft des Schönen und für den Genuss des ästhetischen Spiels, das auf seine Interpretation wartet, hatte dieser Analytiker kultureller Regeln wenig Sinn. Bis er selbst eine Art Kunstwerk verfasste, methodisch umstritten, aber von eigentümlicher Kraft.

Zu einer "Geschichte der kleinen Geschichten" wurde so Das Elend der Welt, jenes soziologische Porträt der französischen Gesellschaft, das Bourdieu - wie es sein Ideal geistiger Arbeit war - nicht allein, sondern mit einer Gruppe von Kollegen nach dreijähriger Recherche auf knapp 900 Seiten gemalt hat. Auf der Straße, in den Hochhäusern, den Vorstädten sammelte dieser Empiriker unter den Theoretikern sein Wissen ein. Aus erster Hand wollte er nun nicht mehr hören, was einer am Leibe trägt, schön findet, im Kühlschrank hat oder gern liest, sondern woran Menschen leiden. Von den Wohnverhältnissen über die Arbeitsbedingungen, den Kampf um Anerkennung bis zu der Sorge von Zuwanderern um die Zukunft der Kinder.

Er hat das Buch in der Gewissheit geschrieben, dass ein Soziologe, der, theoretisch geleitet, zu fragen und zuzuhören versteht, heilen kann wie ein Arzt. Weil das Gespräch, sokratisch geführt, helfe, das eigene Leben besser zu verstehen und zu widerstehen. Dieses Buch verstand er als eine Form zu handeln, das Schweigen zu brechen: "Wir müssen den eigenen Blick auf die anderen ändern, müssen verstehen, wie der andere lebt", sagte Bourdieu damals. Den "Nebel des Unerklärlichen" wollte er auflösen, ausgerechnet in diesem soziologischen Roman, in dieser poetisch dichten Studie voller Dissonanzen, Besonderheiten und Abgründe. Vor allem das Versagen des Staates wollte er anklagen und sprach doch auch von der "metaphysischen Verzweiflung", die ihm bei der Recherche begegnet sei.

So entstand in der Komposition der Geschichten eine methodisch hoch disziplinierte Form der Zuwendung dieses Aufklärers zu seiner Gesellschaft. "Wir wollten das Gespräch zum Buch machen", sagte er, "um den Leuten zurückzugeben, was sie uns anvertraut haben." Zurückgeben, was er ihnen verdankte: sein Wissen über Gesellschaft. In Form des Buchs über das französische Elend, das der Franzose gleich das Elend der Welt nannte. Über 100 000-mal hat es sich verkauft.

Als wäre ein Intellektueller der Gesellschaft, die ihn groß gemacht hat, noch anderes schuldig als glänzende Bücher, wandte Bourdieu sich mehr und mehr der politischen Intervention zu - ob als Redner vor den streikenden Eisenbahnern an der Gare de Lyon 1995, ob als Mentor der Buchreihe Raisons d'agir oder als Anreger einer Vereinigung europäischer Intellektueller. Das europäische Erbe sah er im Sozialstaat, den er gegen die Globalisierung und den Neoliberalismus verteidigen wollte wie die Errungenschaften der Aufklärung. Soziologie als Aufklärung: Das war nicht mehr genug.

Wer heute die Pisa-Studie liest (die sich natürlich auf Bourdieu bezieht, auf seiner Begrifflichkeit ruht) und erfährt, dass die Macht der feinen Unterschiede auch 20 Jahre nach Erscheinen des Standardwerks in den Bildungsgeschichten der Kinder wirksam ist wie eh und je, der wird es mit seiner Hoffnung auf den Einfluss der Sozialwissenschaft nicht übertreiben. Nur ist das kein Argument gegen Werke, die in der Frage nach der Lesemächtigkeit die Machtfrage erkennen.

Nach Berlin, hat Bourdieu erzählt, wäre er gern gezogen, als die Mauer fiel. Dort war er in den Kneipen der Ostberliner Intellektuellen zu Gast, lange bevor der Prenzlauer Berg chic wurde. Weil er aus erster Hand von jener Gesellschaft hören wollte, die bald von westlichen Deutungen, und eben nicht nur Deutungen, überzogen sein würde. Berlin: Dort liege die Arbeit für Soziologen auf der Straße, dort sei der Ort der unbeantworteten Fragen. Aber er sei zu alt. Das große Buch über das Kuriositätenkabinett Berlin muss jemand anders verfassen. Aufs Land wollte Bourdieu manchmal zurück. Am 23. Januar ist er im Alter von 71 Jahren an Krebs gestorben. In Paris. Wo sonst?
   

 


Pierre Bourdieu

       
 

   
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