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junge Nachtarbeiterin bei der Post, Danielle, ist dem Soziologen besonders
in Erinnerung geblieben. Ihr hatte er, neben ungezählten anderen,
in seinem Gesellschaftsporträt La misère du monde (Das
Elend der Welt, deutsch 1997) das Wort erteilt, hatte sich von
den Widrigkeiten des Lebens berichten lassen: Danielle, Tochter
verarmter Winzer aus Südfrankreich, war nach Paris gezogen, um
dort Arbeit zu finden. Sortierte fortan des Nachts Stapel von Briefen,
am Band und im Stehen, kam morgens nach Haus, wenn ihr Mann Serge
zur Arbeit aufbrach, sah die Sonne nur selten, wollte unbedingt die
Kollegen am Band für eine Art Dorfgemeinschaft halten und sammelte
Urlaubstage für die seltene Heimreise nach Süden.
Die Erinnerung an Danielle, von der Frankreichs be-rühmtester
Soziologe Pierre Bourdieu erzählte, galt auch der sozialen Verwandten,
der Zugereisten, der Aufgestiegenen. Monter à Paris (hinauf
nach Paris steigen), sagt die französische Redensart für
den Weg in die Hauptstadt und meint die Reise wie die Ochsentour derer,
die aller Mühen und Zertifikate zum Trotz nie ganz ankommen werden.
Ein Zugereister, geboren 1930 als Sohn kleiner Beamter im südfranzösischen
Dorf Denguin, war und blieb auch Bourdieu, noch als er längst
auf dem intellektuellen Olymp residierte, im Pariser Collège
de France, am sanft ansteigenden Hügel der Montagne Sainte Geneviève,
wo er seit 1981 den Lehrstuhl für Soziologie innehatte. Auf dem
Weg vom Elitegymnasium Louis le Grand über die Elitehochschule
École Normale Supérieure und verschiedene Lehrstühle
und Dozenturen war der gelernte Philosoph auch zum Künstler der
Distanz geworden, auffällig bescheiden, nervös und eitel
zugleich. "Das öffentliche Leben in Paris funktioniert ja
nur nach dem Kriterium ,chic oder nicht chic'", sagte er zornig
gegen die traditionellen Pariser Eliten und meinte jene "liberalen
Denker", die "mit flotten Sprüchen über die soziale Misere
in unseren Gesellschaften" hinweggingen.
Er musste es wissen: Diese Eliten, die Biografien der Intellektuellen,
die Kultur - und Bildungssoziologie hatte er zu einem Hauptgegenstand
seiner Forschung gemacht - von den Feinen Unterschieden
(1979) über den Homo academicus (1984) bis zum Staatsadel
(1989). Und Bourdieu griff diese Eliten an, als sei es nicht ebenso
charakteristisch für das Pariser Milieu, dass führende Köpfe
wie Jacques Derrida oder Emmanuel Lévinas auch dazuzählten,
ohne ganz dazuzugehören - darin Bourdieu ähnlich,
feine Unterschiede hin oder her.
Seit Bourdieus wissenschaftlichen Anfängen - der ethnologischen
Studie über die algerischen Kabylen, welche die Franzosen mit
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überzogen hatten - hat
Bourdieu, der Junge aus der Provinz, die Frage nach dem kulturellen
und ökonomischen Anpassungszwang nicht mehr verlassen, der von
Metropolen wie Paris in alle Welt ausging. Anders gesagt: Die
Frage nach den Verlierern und Verlusten der Modernisierung wurde zu
einem Antrieb seiner immer empirisch orientierten Soziologie und später
zum Leitmotiv seines politischen Handelns.
Den Feinen Unterschieden galt eines seiner wissenschaftlichen
Hauptwerke: den Unterschieden des Geschmacks, der Sitten, der
Vorlieben, der Bildung, an denen zu erkennen ist, aus welchem Stall
einer kommt. Egal, wie begabt er ist. Egal, ob er wie Bourdieu von
unten in die Zentren der Macht gelangt, ob er die verschwiegene Ungerechtigkeit
seiner Kultur zum Thema eines Lebenswerks von Weltgeltung macht - die
kulturellen Mechanismen des Ausschlusses erforschend, die subtilen
Herrschaftsformen der Gebildeten benennend, als wäre er, der
alle glänzenden Zertifikate erwarb, dadurch umso mehr vom Drang
nach Gerechtigkeit getrieben.
Als Bourdieu vor ein paar Jahren gebeten wurde, seine Erinnerungen
an das Kriegsende festzuhalten, da schrieb er, zu seinem Erstaunen
habe er keine; er erinnere sich nur diffus an das in Ängste
und Schamgefühl eingesperrte Kind, das er als Internatsschüler
fern von zu Hause war; die persönliche Geschichte beschrieb
Bourdieu hier als Gefängnis, aus dem jeder entlassen werden muss,
wenn er die große Geschichte wahrnehmen können soll und
an ihr partizipieren. Und er schrieb - eine Seltenheit in seinem
sprachlich schwarzbrotähnlichen Werk - in Bildern,
die zum Verfilmen anschaulich sind: wie er ausgehungert ein vom
Irrtum beschertes rohes Schnitzel verschlingt; wie ihn hinter
der nicht verschließbaren Tür des Plumpsklos im Schulhof
das Gefühl der Schutzlosigkeit packt und ihn sonntags in der
menschenleeren Schule die Erleichterung umfängt, allein sein
zu dürfen. Mit einem Buch.
Der Soziologe, den stets am meisten interessiert hatte, wie Individualität
und kollektive Muster zusammenhängen, der den Begriff des Habitus
neu prägte, nämlich als buchstäbliche Verkörperung
eines kulturellen Status durch eine Person, dieser Soziologe wandte
sich Ende der achtziger Jahre den Individuen als Einzelfällen
zu: in den Recherchen zum Elend der Welt. Und holte dabei
im Gespräch mit seinen Interviewpartnern auch eine hermeneutische
Schulung im Verstehen nach, die ihm, dem Theoretiker der Macht, in
seinen Analysen der Kunst zumeist fehlte. Für die befreiende
Kraft des Schönen und für den Genuss des ästhetischen
Spiels, das auf seine Interpretation wartet, hatte dieser Analytiker
kultureller Regeln wenig Sinn. Bis er selbst eine Art Kunstwerk verfasste,
methodisch umstritten, aber von eigentümlicher Kraft.
Zu einer "Geschichte der kleinen Geschichten" wurde so Das Elend
der Welt, jenes soziologische Porträt der französischen
Gesellschaft, das Bourdieu - wie es sein Ideal geistiger Arbeit
war - nicht allein, sondern mit einer Gruppe von Kollegen
nach dreijähriger Recherche auf knapp 900 Seiten gemalt hat.
Auf der Straße, in den Hochhäusern, den Vorstädten
sammelte dieser Empiriker unter den Theoretikern sein Wissen ein.
Aus erster Hand wollte er nun nicht mehr hören, was einer am
Leibe trägt, schön findet, im Kühlschrank hat oder
gern liest, sondern woran Menschen leiden. Von den Wohnverhältnissen
über die Arbeitsbedingungen, den Kampf um Anerkennung bis zu
der Sorge von Zuwanderern um die Zukunft der Kinder.
Er hat das Buch in der Gewissheit geschrieben, dass ein Soziologe,
der, theoretisch geleitet, zu fragen und zuzuhören versteht,
heilen kann wie ein Arzt. Weil das Gespräch, sokratisch geführt,
helfe, das eigene Leben besser zu verstehen und zu widerstehen. Dieses
Buch verstand er als eine Form zu handeln, das Schweigen zu brechen: "Wir
müssen den eigenen Blick auf die anderen ändern, müssen
verstehen, wie der andere lebt", sagte Bourdieu damals. Den "Nebel
des Unerklärlichen" wollte er auflösen, ausgerechnet in
diesem soziologischen Roman, in dieser poetisch dichten Studie voller
Dissonanzen, Besonderheiten und Abgründe. Vor allem das Versagen
des Staates wollte er anklagen und sprach doch auch von der "metaphysischen
Verzweiflung", die ihm bei der Recherche begegnet sei.
So entstand in der Komposition der Geschichten eine methodisch hoch
disziplinierte Form der Zuwendung dieses Aufklärers zu seiner
Gesellschaft. "Wir wollten das Gespräch zum Buch machen",
sagte er, "um den Leuten zurückzugeben, was sie uns anvertraut
haben." Zurückgeben, was er ihnen verdankte: sein Wissen
über Gesellschaft. In Form des Buchs über das französische
Elend, das der Franzose gleich das Elend der Welt nannte. Über
100 000-mal hat es sich verkauft.
Als wäre ein Intellektueller der Gesellschaft, die ihn groß
gemacht hat, noch anderes schuldig als glänzende Bücher,
wandte Bourdieu sich mehr und mehr der politischen Intervention zu - ob
als Redner vor den streikenden Eisenbahnern an der Gare de Lyon 1995,
ob als Mentor der Buchreihe Raisons d'agir oder als Anreger
einer Vereinigung europäischer Intellektueller. Das europäische
Erbe sah er im Sozialstaat, den er gegen die Globalisierung und den
Neoliberalismus verteidigen wollte wie die Errungenschaften der Aufklärung.
Soziologie als Aufklärung: Das war nicht mehr genug.
Wer heute die Pisa-Studie liest (die sich natürlich auf Bourdieu
bezieht, auf seiner Begrifflichkeit ruht) und erfährt, dass die
Macht der feinen Unterschiede auch 20 Jahre nach Erscheinen des Standardwerks
in den Bildungsgeschichten der Kinder wirksam ist wie eh und je, der
wird es mit seiner Hoffnung auf den Einfluss der Sozialwissenschaft
nicht übertreiben. Nur ist das kein Argument gegen Werke, die
in der Frage nach der Lesemächtigkeit die Machtfrage erkennen.
Nach Berlin, hat Bourdieu erzählt, wäre er gern gezogen,
als die Mauer fiel. Dort war er in den Kneipen der Ostberliner Intellektuellen
zu Gast, lange bevor der Prenzlauer Berg chic wurde. Weil er aus erster
Hand von jener Gesellschaft hören wollte, die bald von westlichen
Deutungen, und eben nicht nur Deutungen, überzogen sein würde.
Berlin: Dort liege die Arbeit für Soziologen auf der Straße,
dort sei der Ort der unbeantworteten Fragen. Aber er sei zu alt. Das
große Buch über das Kuriositätenkabinett Berlin muss
jemand anders verfassen. Aufs Land wollte Bourdieu manchmal zurück.
Am 23. Januar ist er im Alter von 71 Jahren an Krebs gestorben. In
Paris. Wo sonst?
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