Maison Écrivez-nous !  

Société

Textes

Images

Musiques

  Société

 
   

 

    
Décès de Pierre Bourdieu :(

    

 

 

 

  

    

Ernst und Elend des sozialen Lebens.
Theorie aus Verantwortung :
Zum Tode von Pierre Bourdieu.

 
 

WOLF LEPENIES, Süddeutsche Zeitung, 25/01/02.

 
 

   

seit der Aufklärung ist es Bestimmung der Philosophie, das Staunen aufzuheben. Sinn der Soziologie ist es, nicht an den Zufall in der Gesellschaft zu glauben. So war es denn zweifellos auch kein Zufall, dass Clemens Heller anrief, um mir den Tod Pierre Bourdieus mitzuteilen. Der Österreicher Heller, der notgedrungen zum Amerikaner geworden war, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die Maison des Sciences de l’Homme zusammen mit Fernand Braudel zu einer anarchischen Institution gemacht, die sich nie in das festgesponnene Netz der Pariser Institutionen fügte. In der Maison fühlte Bourdieu sich wohl, weil er sich hier nicht gezwungen sah, seinen Status zu behaupten und sein Einflussfeld auszudehnen.

Pierre Bourdieu, der 71 Jahre alt wurde, war bis 2001 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie am Collège de France und bis 1998 Direktor des Centre de Sociologie Européenne an der Ecole des Hautes Etudes. Er hat erreicht, was ein Sozialwissenschaftler in Frankreich erreichen kann: als Lehrstuhlinhaber am Collège de France war er zum „Ersten Soziologen Frankreichs“ geworden. Seine intellektuelle und soziale Nervosität aber wurde durch den Erfolg nicht geringer.

Die Antrittsvorlesung am 23. April 1982 zeigte, wie sehr ihn eine hochgesteigerte Reflexivität prägte und manches Mal wohl auch quälte. Er erteilte seinen Zuhörern eine Lektion, indem er deutlich machte, dass es zu seinen professionellen Aufgaben gehörte, auch so einen Augenblick nicht zu genießen, sondern zu analysieren: „Die Soziologie ... schafft .. . eine unüberwindliche, manchmal sogar – und nicht bloß für die Institution – unerträgliche Distanz.“

Die Soziologie war für Pierre Bourdieu alles andere als eine fröhliche Wissenschaft. Sie war für ihn die Disziplin vom Ernst und oft genug auch vom Elend des sozialen Lebens. Die Franzosen kennen den „homme nécessaire“. Für Bourdieu war die Soziologie eine notwendige Wissenschaft. Nur sie konnte einerseits den Zwangscharakter der sozialen Tatsachen erkennen und gleichzeitig herausfinden, wie der Einzelne – Bourdieu sprach in diesem Zusammenhang lieber vom „Agenten“ als vom „Subjekt“ – es vermochte, sich gegen diese Zwänge Freiräume des Handelns zu verschaffen.

Jede Gesellschaft wurde beispielsweise von bestimmten Heiratssystemen geprägt – aber zugleich entwickelten die Heiratswilligen Strategien, mit denen sie versuchten, die Flexibilität des Systems zu testen. In der Regel orientierten sich die Wissenschaftler, seien es Ethnologen oder Soziologen, am System oder am Subjekt. Sie blickten entweder wie Gottvater auf die objektiven und unveränderlichen Strukturen, in denen sich die Akteure wie Marionetten bewegten, oder sie nahmen den Standpunkt der Handelnden ein und sprachen ihnen Freiheitsgrade zu, die illusorisch waren.

Bourdieu betonte demgegenüber das Paradox, dass menschliches Handeln auf gesellschaftliche Zielsetzungen hin orientiert ist, ohne bewusst diesen Zielsetzungen zu folgen.Bourdieu verwies auf eine Parallele aus der generativen Grammatik Noam Chomskys: Als kompetente Sprecher sind wir in ein begrenztes Repertoire von Regeln eingebunden, könnenaber zugleich unendlich viele grammatikalisch korrekte Sätze formulieren.

Kunst der Unterscheidung

Aus Kernbegriffen wie „Habitus“, „Feld“ und „kulturelles Kapital“ hat Bourdieu keine Großtheorie entwickelt, sondern mit ihrer Hilfe einen Handwerkskasten gefüllt, der ihn zum begnadeten Bastler der modernen Sozialwissenschaften werden ließ. „Bastelei“ (bricolage) war für Claude Lévi-Strauss die Schlüsselattitüde der postmodernen Welt: es galt, nicht nach Neuem zu streben, sondern auf originelle Weise mit den Beständen zu rechnen. Ohne sich mit der dahinterstehenden Geschichtsphilosophie zu identifizieren, hat Bourdieu sich die damit verbundene Haltung zu eigen gemacht. Er hat eigene Forschungsperspektiven durch die Rekombination vorhandener Theoriestücke und Methoden entwickelt, ohne je als Nachahmer zu wirken. Er hatte weniger eine umfassende Theorie als einen durchdringenden Stil.

Dieser Stil bildet sich früh bei ihm aus und durchzieht alle Schriften – von den ersten Untersuchungen über die Kabylen, zu denen ihn sein Militärdienst in Algerien motiviert hatte, über Bestseller wie „Die feinen Unterschiede“ und die Kritik am modernen Museumsbetrieb bis zu den „Méditations pascaliennes“.

In den Titeln deutet sich Bourdieus hoher Anspruch an. „Die feinen Unterschiede“ beispielsweise wollen, in Anlehnung an und in feiner Absetzung von Kant, eine „Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ bereitstellen. Diese Kritik aber scheut sich nicht,Distinktionen der Lebensführung bis in die auf den ersten Blick unscheinbaren Kleinigkeiten des Alltagslebens zurückzuverfolgen: wer zu Hause beruhigend und diskret übereinen beigefarbenen Teppichboden gleitet, wird andere Filme besuchen als der, der sich tagtäglich dem Kontakt mit grellfarbenem Linoleum aussetzen muss.

Bourdieus beeindruckendste Publikation ist vielleicht das Buch, in dem er selbst am wenigsten sagt: „La Misère du Monde“ („Das Elend der Welt“), ein Sammelband, in dem die Betroffenen sprechen. Der Titel erinnert an „Les Misérables“, und die Fakten,die sich aus dieser Enzyklopädie des alltäglichen Leidens in unserer Gesellschaft herausschälen, erzeugen in ihrer zahlengestützten Nüchternheit die gleiche Wucht und Wut wie im 19. Jahrhunderts das Pathos eines Victor Hugo. Bourdieus zorniges Engagement für die französischen Arbeiter und sein Kampf gegen die weltweit verheerenden Wirkungen des neoliberalen Marktfundamentalismus könnten auch auf die Erfahrungen zurückgehen, die er mit „La Misère du Monde“ gemacht hat.

Das Buch ist das Werk einer Equipe: Pierre Bourdieu hat zeitlebens versucht, die Intellektuellen zum Gruppenhandeln zu motivieren und ihnen damit eine stärkere Wirksamkeit zu verleihen. Er hat dies auf zurückhaltende Weise mit derZeitschrift Liber getan, die ein europäisches Pendant zur New York Review of Books werden sollte. Er hat ohne jede Zurückhaltung seine ganze intellektuelle Aggressivität darauf verwandt, sich gegen die Staatsaristokratie in seinem eigenen Land und gegen das globale Diktat der Wirtschaft und des Finanzkapitals zu wenden. Er mag sich damit in der Tradition der aus der Intellektuellenschicht stammenden Volkstribunen gesehen haben, an denen die französische Geschichte so reich ist. Bourdieu ähnelte ihnen auch darin, dass er wirkungslos blieb.Im Gedächtnis bleiben wird er als ein Soziologe, der unsere Gesellschaft mit schmerzhafter Genauigkeit durchschaute.


Wolf Lepenies : un bricoleur doué.

Extrait d'un article paru dans la Süddeutsche Zeitung du 25 janvier. Traduction : LE MONDE, 25.01.02.
Wolf Lepenies, Professeur de sociologie à l'université de Berlin.

"Pour Bourdieu, la sociologie était une science nécessaire. Elle était nécessaire parce qu'elle seule donnait la possibilité, d'une part, de connaître le caractère contraignant des faits sociaux et, d'autre part, de mettre au jour comment l'individu - Bourdieu parlait en l'occurrence plutôt d'"agents" que de "sujets" - pouvait se créer des espaces de liberté envers ces contraintes.

"Toute société est par exemple marquée par des systèmes d'alliance particuliers, mais en même temps ceux qui vont se marier développent des stratégies par lesquelles ils cherchent à tester la souplesse du système. En général, les scientifiques, qu'il s'agisse d'ethnologues ou de sociologues, s'intéressaient aux systèmes ou aux individus. Ou bien ils regardaient, tel Dieu le Père, les structures objectives et immuables dans lesquelles les acteurs se muaient comme des marionnettes, ou bien ils adoptaient le point de vue de ceux qui agissent et leur reconnaissaient un de- gré de liberté qui était illusoire. Bourdieu, au contraire, tenait au paradoxe selon lequel l'action humaine s'oriente sur des objectifs donnés par la société sans pour autant poursuivre consciemment ces objectifs. Bourdieu renvoyait à un parallèle avec la grammaire générative de Noam Chomsky : comme locuteurs, nous sommes liés par un répertoire limité de règles, mais nous pouvons en même temps formuler un nombre illimité de phrases grammaticalement correctes.

"Pierre Bourdieu n'a pas développé une grande théorie à partir de concepts comme "habitus", "champ" ou "capital culturel", mais il a rempli avec eux une boîte à outils qui a fait de lui un bricoleur doué des sciences sociales modernes."
   

 
       
   

   
maison   société   textes   images   musiques