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der Aufklärung ist es Bestimmung der Philosophie, das Staunen
aufzuheben. Sinn der Soziologie ist es, nicht an den Zufall in der
Gesellschaft zu glauben. So war es denn zweifellos auch kein Zufall,
dass Clemens Heller anrief, um mir den Tod Pierre Bourdieus mitzuteilen.
Der Österreicher Heller, der notgedrungen zum Amerikaner geworden
war, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die Maison des Sciences de l’Homme
zusammen mit Fernand Braudel zu einer anarchischen Institution gemacht,
die sich nie in das festgesponnene Netz der Pariser Institutionen
fügte. In der Maison fühlte Bourdieu sich wohl, weil er
sich hier nicht gezwungen sah, seinen Status zu behaupten und sein
Einflussfeld auszudehnen.
Pierre Bourdieu, der 71 Jahre alt wurde, war bis 2001 Inhaber des
Lehrstuhls für Soziologie am Collège de France und bis
1998 Direktor des Centre de Sociologie Européenne an der Ecole
des Hautes Etudes. Er hat erreicht, was ein Sozialwissenschaftler
in Frankreich erreichen kann: als Lehrstuhlinhaber am Collège
de France war er zum „Ersten Soziologen Frankreichs“ geworden. Seine
intellektuelle und soziale Nervosität aber wurde durch den Erfolg
nicht geringer.
Die Antrittsvorlesung am 23. April 1982 zeigte, wie sehr ihn eine
hochgesteigerte Reflexivität prägte und manches Mal wohl
auch quälte. Er erteilte seinen Zuhörern eine Lektion, indem
er deutlich machte, dass es zu seinen professionellen Aufgaben gehörte,
auch so einen Augenblick nicht zu genießen, sondern zu analysieren:
„Die Soziologie ... schafft .. . eine unüberwindliche, manchmal
sogar – und nicht bloß für die Institution – unerträgliche
Distanz.“
Die Soziologie war für Pierre Bourdieu alles andere als eine
fröhliche Wissenschaft. Sie war für ihn die Disziplin vom
Ernst und oft genug auch vom Elend des sozialen Lebens. Die Franzosen
kennen den „homme nécessaire“. Für Bourdieu war die Soziologie
eine notwendige Wissenschaft. Nur sie konnte einerseits den Zwangscharakter
der sozialen Tatsachen erkennen und gleichzeitig herausfinden, wie
der Einzelne – Bourdieu sprach in diesem Zusammenhang lieber vom „Agenten“
als vom „Subjekt“ – es vermochte, sich gegen diese Zwänge Freiräume
des Handelns zu verschaffen.
Jede Gesellschaft wurde beispielsweise von bestimmten Heiratssystemen
geprägt – aber zugleich entwickelten die Heiratswilligen Strategien,
mit denen sie versuchten, die Flexibilität des Systems zu testen.
In der Regel orientierten sich die Wissenschaftler, seien es Ethnologen
oder Soziologen, am System oder am Subjekt. Sie blickten entweder
wie Gottvater auf die objektiven und unveränderlichen Strukturen,
in denen sich die Akteure wie Marionetten bewegten, oder sie nahmen
den Standpunkt der Handelnden ein und sprachen ihnen Freiheitsgrade
zu, die illusorisch waren.
Bourdieu betonte demgegenüber das Paradox, dass menschliches
Handeln auf gesellschaftliche Zielsetzungen hin orientiert ist, ohne
bewusst diesen Zielsetzungen zu folgen.Bourdieu verwies auf eine Parallele
aus der generativen Grammatik Noam Chomskys: Als kompetente Sprecher
sind wir in ein begrenztes Repertoire von Regeln eingebunden, könnenaber
zugleich unendlich viele grammatikalisch korrekte Sätze formulieren.
Kunst
der Unterscheidung
Aus Kernbegriffen wie „Habitus“, „Feld“ und „kulturelles Kapital“
hat Bourdieu keine Großtheorie entwickelt, sondern mit ihrer
Hilfe einen Handwerkskasten gefüllt, der ihn zum begnadeten Bastler
der modernen Sozialwissenschaften werden ließ. „Bastelei“ (bricolage)
war für Claude Lévi-Strauss die Schlüsselattitüde
der postmodernen Welt: es galt, nicht nach Neuem zu streben, sondern
auf originelle Weise mit den Beständen zu rechnen. Ohne sich
mit der dahinterstehenden Geschichtsphilosophie zu identifizieren,
hat Bourdieu sich die damit verbundene Haltung zu eigen gemacht. Er
hat eigene Forschungsperspektiven durch die Rekombination vorhandener
Theoriestücke und Methoden entwickelt, ohne je als Nachahmer
zu wirken. Er hatte weniger eine umfassende Theorie als einen durchdringenden
Stil.
Dieser Stil bildet sich früh bei ihm aus und durchzieht alle
Schriften – von den ersten Untersuchungen über die Kabylen, zu
denen ihn sein Militärdienst in Algerien motiviert hatte, über
Bestseller wie „Die feinen Unterschiede“ und die Kritik am modernen
Museumsbetrieb bis zu den „Méditations pascaliennes“.
In den Titeln deutet sich Bourdieus hoher Anspruch an. „Die feinen
Unterschiede“ beispielsweise wollen, in Anlehnung an und in feiner
Absetzung von Kant, eine „Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“
bereitstellen. Diese Kritik aber scheut sich nicht,Distinktionen der
Lebensführung bis in die auf den ersten Blick unscheinbaren Kleinigkeiten
des Alltagslebens zurückzuverfolgen: wer zu Hause beruhigend
und diskret übereinen beigefarbenen Teppichboden gleitet, wird
andere Filme besuchen als der, der sich tagtäglich dem Kontakt
mit grellfarbenem Linoleum aussetzen muss.
Bourdieus beeindruckendste Publikation ist vielleicht das Buch, in
dem er selbst am wenigsten sagt: „La Misère du Monde“ („Das
Elend der Welt“), ein Sammelband, in dem die Betroffenen sprechen.
Der Titel erinnert an „Les Misérables“, und die Fakten,die
sich aus dieser Enzyklopädie des alltäglichen Leidens in
unserer Gesellschaft herausschälen, erzeugen in ihrer zahlengestützten
Nüchternheit die gleiche Wucht und Wut wie im 19. Jahrhunderts
das Pathos eines Victor Hugo. Bourdieus zorniges Engagement für
die französischen Arbeiter und sein Kampf gegen die weltweit
verheerenden Wirkungen des neoliberalen Marktfundamentalismus könnten
auch auf die Erfahrungen zurückgehen, die er mit „La Misère
du Monde“ gemacht hat.
Das Buch ist das Werk einer Equipe: Pierre Bourdieu hat zeitlebens
versucht, die Intellektuellen zum Gruppenhandeln zu motivieren und
ihnen damit eine stärkere Wirksamkeit zu verleihen. Er hat dies
auf zurückhaltende Weise mit derZeitschrift Liber getan, die
ein europäisches Pendant zur New York Review of Books werden
sollte. Er hat ohne jede Zurückhaltung seine ganze intellektuelle
Aggressivität darauf verwandt, sich gegen die Staatsaristokratie
in seinem eigenen Land und gegen das globale Diktat der Wirtschaft
und des Finanzkapitals zu wenden. Er mag sich damit in der Tradition
der aus der Intellektuellenschicht stammenden Volkstribunen gesehen
haben, an denen die französische Geschichte so reich ist. Bourdieu
ähnelte ihnen auch darin, dass er wirkungslos blieb.Im Gedächtnis
bleiben wird er als ein Soziologe, der unsere Gesellschaft mit schmerzhafter
Genauigkeit durchschaute.
Wolf
Lepenies : un bricoleur doué.
Extrait
d'un article paru dans la Süddeutsche Zeitung du 25 janvier.
Traduction : LE MONDE, 25.01.02.
Wolf Lepenies, Professeur de sociologie à
l'université de Berlin.
"Pour Bourdieu, la sociologie était une science nécessaire.
Elle était nécessaire parce qu'elle seule donnait la
possibilité, d'une part, de connaître le caractère
contraignant des faits sociaux et, d'autre part, de mettre au jour
comment l'individu - Bourdieu parlait en l'occurrence plutôt
d'"agents" que de "sujets" - pouvait se créer des
espaces de liberté envers ces contraintes.
"Toute société est par exemple marquée par des
systèmes d'alliance particuliers, mais en même temps
ceux qui vont se marier développent des stratégies par
lesquelles ils cherchent à tester la souplesse du système.
En général, les scientifiques, qu'il s'agisse d'ethnologues
ou de sociologues, s'intéressaient aux systèmes ou aux
individus. Ou bien ils regardaient, tel Dieu le Père, les structures
objectives et immuables dans lesquelles les acteurs se muaient comme
des marionnettes, ou bien ils adoptaient le point de vue de ceux qui
agissent et leur reconnaissaient un de- gré de liberté
qui était illusoire. Bourdieu, au contraire, tenait au paradoxe
selon lequel l'action humaine s'oriente sur des objectifs donnés
par la société sans pour autant poursuivre consciemment
ces objectifs. Bourdieu renvoyait à un parallèle avec
la grammaire générative de Noam Chomsky : comme locuteurs,
nous sommes liés par un répertoire limité de
règles, mais nous pouvons en même temps formuler un nombre
illimité de phrases grammaticalement correctes.
"Pierre Bourdieu n'a pas développé une grande théorie
à partir de concepts comme "habitus", "champ" ou "capital culturel",
mais il a rempli avec eux une boîte à outils qui a fait
de lui un bricoleur doué des sciences sociales modernes."
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