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  Pierre Bourdieu

 
  

sociologue énervant

 
  

Des textes de l'impétrant
 

 
  Pierre Bourdieu

  Position und Perspektive.

 
  

pierre bourdieu
In La misère du monde, Pierre Bourdieu, dir., Seuil, 1993, pp. 9,10 & 11.
Aus dem französischen übertragen von Bernd Schwibs.
 

 
 
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u m zu verstehen, was sich an Orten ereignet, die wie »Städte« oder »Großräume« und zahlreiche schulische Einrichtungen Menschen, die alles trennt, zusammenbringen, die sie zwingen, miteinander zu leben, sei es in gegenseitiger Unkenntnis oder wechselseitigem Unverständnis, sei es in latentem oder offen erklärtem Konflikt, samt aller daraus resultierenden Leiden, ist es unzureichend, alle einzelnen Standpunkte isoliert zu erklären. Sie müssen, wie in der Realität selbst, miteinander konfrontiert werden, nicht um sie im Wechselspiel der endlos sich kreuzenden Bilder zu relativieren, sondern ganz im Gegenteil um durch den schlichten Effekt des Nebeneinanderstellens sichtbar zu machen, was aus der Konfrontation der unterschiedlichen oder gegensätzlichen Weltsichten hervorgeht, d.h., in bestimmten Fällen, die Tragik, die aus dem konzessions- wie kompromißlosen Zusammenprall unvereinbarer, weil gleicherweise in der sozialen Vernunft begründeter Standpunkte erwächst.

 Die Interviews wurden zwar wie für sich stehende Komplexe konzipiert und konstruiert, die jeweils einzeln (und in beliebiger Reihenfolge) gelesen werden können, dann jedoch auf eine Weise angeordnet und verteilt, daß die Personen, die Kategorien zugehören, die im physischen Raum virtuell nahegebracht, wenn nicht konfrontiert werden können (wie die Hausmeister von Sozialwohnungssiedlungen und deren Bewohner, Erwachsene und Jugendliche, Arbeiter, Handwerker oder Händler), sich auch beim Lesen naherücken. Verbunden ist damit die Hoffnung, zwei Effekte zu erzielen: zum einen sichtbar zu machen, daß die sogenannten »schwierigen« Orte (wie gegenwärtig die »Stadt« oder die Schule) zunächst einmal schwierig zu beschreiben und zu verstehen sind und daß die vereinfachten, eindimensionalen (zumal von der Presse vermittelten) Bilder ersetzt werden müssen durch eine komplexe, mehrdimensionale Vorstellung, die auf der Äußerung derselben Realitäten in unterschiedlichen, manchmal unvereinbaren Diskursen gründet; zum anderen - nach Art von Romanciers wie Faulkner, Joyce oder Virginia Woolf - den einen, zentralen, beherrschenden, kurz: gleichsam göttlichen Standpunkt, den der Beobachter und sein Leser (jedenfalls solange, als er sich nicht selbst betroffen fühlt) so gern einnehmen, zugunsten der Pluralität der Perspektiven aufzugeben, die der Pluralität der miteinander existierenden und manchmal direkt konkurrierenden Standpunkte entspricht.

 Dieser Perspektivismus hat nichts von einem subjektivistischen Relativismus an sich, der zu einer Form von Zynismus oder Nihilismus führen würde. Denn er gründet in der Realität der sozialen Welt selbst und trägt dazu bei, einen Großteil des Geschehens in dieser Welt zu erklären, nicht zuletzt vieles von den Leiden, die aus dem Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Interessen, Dispositionen und Lebensstile erwachsen; ein Aufeinanderprallen, das durch das Zusammenleben der Menschen, die unter all diesen Aspekten differieren, insbesondere am Wohnort oder an der Arbeitsstelle, gefördert wird. Innerhalb jeder einzelnen dauerhaften Gruppe (Nachbarn eines Viertels oder Hauses, Arbeitskollegen usw.) als dem lebenspraktischen Horizont aller Erfahrungen werden die die unterschiedlichen Klassen, Ethnien und Generationen trennenden Gegensätze, insbesondere im Bereich des Lebensstils, wahrgenommen und erlebt, einschließlich der aus dem Filtereffekt resultierenden Irrtümer (in bezug nicht zuletzt auf das anvisierte Ziel). Selbst wenn man zuweilen auf Personen trifft, die aufgrund ihrer Laufbahn und Stellung zu einer zerrissenen und in sich gespaltenen Sicht neigen (ich denke an jenen Sportartikelhändler aus einem »schwierigen« Stadtgebiet, der sich berechtigt fühlt, sich mit Gewalt gegen die Aggressionen der Jugendlichen zur Wehr zu setzen, ihnen zugleich aber auch Verständnis entgegenbringt), leistet die direkte Konfrontation mit den Unterschieden doch einer interessegeleiteten und parteiischen polemischen Klarsicht Vorschub (so etwa wenn jener spanische Immigrant auf die unterschiedlichen Strukturen zwischen den europäischen Familien, in denen eine niedrige Fruchtbarkeitsrate mit häufig starker Lebensdisziplin gepaart ist, und den nordafrikanischen Familien verweist, die in der Regel sehr kinderreich sind und aufgrund der Krise der väterlichen Autorität, hervorgerufen durch den Status des Vaters als eines Zugewanderten und unzureichend Angepaßten, der manchmal auch noch von seinen eigenen Kinder abhängig ist, häufig zur Anomie verurteilt sind).

 Der unmittelbar verspürte Effekt der sozialen Interaktionen innerhalb jener sozialen Mikrokosmen wie Büro, Werkstatt, Kleinunternehmen, Nachbarschaft und Großfamilie determiniert oder verändert zumindest die Erfahrung der im sozialen Makrokosmos eingenommenen Position. Patrick Süßkinds Stück Der Kontrabaß vermittelt ein äußerst gelungenes Bild von der schmerzhaften Erfahrung, die all jene von der sozialen Welt haben können, die - wie der Kontrabassist in einem Orchester- eine untere und unbedeutende Stellung innerhalb eines prestigereichen und privilegierten Universums einnehmen; wobei diese Erfahrung um so schmerzhafter sein dürfte, je weiter oben im globalen Raum dieses Universum angesiedelt ist, an dem sie ausreichend partizipieren, um ihre niedere Position wahrnehmen zu können. Dieses positionsbedingte Elend, bezogen auf die Perspektive dessen, der es erfährt und dabei in den Grenzen des Mikrokosmos gefangen bleibt, erscheint zwangsläufig als »gänzlich relativ«, d.h. völlig irreal, wenn man es aus der Perspektive des Makrokosmos mit dem großen situationsbedingten Elend vergleicht; ein Bezug, der übrigens tagtäglich vorgenommen wird, um jemand zu kritisieren (»Du kannst dich nicht beklagen«) oder aber zu trösten (»Es gibt Schlimmeres, weißt du«). Doch indem man die große Not zum ausschließlichen Maß aller Formen der Not erhebt, versagt man sich, einen ganzen Teil der Leiden wahrzunehmen und zu verstehen, die für eine soziale Ordnung charakteristisch sind, die gewiß die große Not zurückgedrängt hat (allerdings weniger als zuweilen behauptet wird), im Zuge ihrer Ausdifferenzierung aber auch vermehrt soziale Räume (spezifische Felder und Sub-Felder) und damit Bedingungen geschaffen hat, die eine beispiellose Entwicklung aller Formen kleiner Nöte begünstigt haben. Man hätte auch keine richtige Vorstellung einer Welt gegeben, die wie der soziale Kosmos die Besonderheit aufweist, unzählige Vorstellungen ihrer selbst zu produzieren, wäre im Raum der Standpunkte nicht auch jenen Kategorien Platz eingeräumt worden, die in besonderem Maße der kleinen Not ausgesetzt sind: all den Professionen, deren Aufgabe es ist, aktiv mit der großen Not umzugehen oder darüber zu sprechen, mit allen Verzeichnungen, die sich aus der Besonderheit ihres Standpunkts ergeben.
  

 

Pierre Bourdieu

   
 

   
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